Chancen erspüren

Familienunternehmen im Auge des Sturms (3)
Eine internationale Umfrage

In unserem ersten Artikel haben wir uns auf die massiven Herausforderungen fokussiert, vor denen Familienunternehmen (FUs) stehen – und wie sich diese beispiellose Krise auf die Unternehmen auswirkt. Am häufigsten wurden Unsicherheit und Unplanbarkeit, große Sorge um die eigenen Mitarbeiter und natürlich oft enorme Umsatz- und Gewinnrückgänge erwähnt. Im zweiten Artikel haben wir beschrieben, wie sich Familienunternehmen anpassen, um zu überleben – und welche Maßnahmen sie im Kampf gegen die Krise ergriffen haben: Intensive Kommunikation auf allen Ebenen, der weit verbreitete Vorsatz, möglichst die große Mehrheit der Mitarbeiter trotz des enormen Kostendrucks halten zu können – aber gleichzeitig auch die Organisationen „straffer zu führen“. In diesem dritten Artikel werden wir uns mit den Chancen befassen, die viele der FUs erkennen, und wie sie diese zu nutzen gedenken.

Wir haben alle schon einmal den Ratschlag „Verschwende nie eine gute Krise!“ gehört, aber gilt dieser schlaue Business School-Satz auch in einem Notfall von solcher Tragweite? Den Teilnehmern unserer Umfrage zufolge ist die Antwort ein klares „Ja“, basierend auf einer Vielzahl von Chancen, die wir im Folgenden aufzeigen wollen.

Veränderungsinitiativen

Viele der FU-Eigentümer und CEOs glauben, dass die Krise Chancen eröffnet, Veränderungen und Transformationsinitiativen voranzutreiben: „Die große Chance für das Unternehmen besteht darin, den von uns ohnehin geplanten Wandel nun zu beschleunigen, schneller und E-Commerce-fähiger zu werden.“; „Es wird weniger Überzeugungszeit benötigt, weil sich alle im Überlebensmodus befinden“; „Lang notwendige Restrukturierungsprogramme, die in bequemeren Zeiten auf Widerstand stießen, können nun endlich durchgesetzt werden.“

Kundennähe

Viele in Europa ansässige FUs wollen diese Krise nutzen, um näher an ihre Kunden heranzurücken. So sagt zum Beispiel ein in Zürich ansässiges Industrieunternehmen seinen Kunden: „Ja, wir sind teurer (als Wettbewerber aus Fernost), aber als Schweizer garantieren wir hohe Qualität, wir liefern immer, und wir arbeiten rund um die Uhr für Sie.“ Die interne Maxime lautet: „Wir helfen unseren Kunden und zeigen ihnen, dass wir besser sind.“

Engere Beziehungen zwischen Eigentümer und CEO

Wie bereits erwähnt, erklärten alle befragten CEOs, dass die Häufigkeit der Kommunikation mit den Eigentümern zugenommen habe – „Derzeit spreche ich jeden Tag in der Woche mit der Eigentümerfamilie.“ Viele hoffen, dass diese größere und oft intimere Kommunikationsebene zu noch engeren und vertrauensvolleren Beziehungen mit der Eigentümerfamilie führen wird.

Marktkonsolidierung

Fast alle CEOs, mit denen wir sprachen, erwarten im Laufe der Zeit eine Marktkonsolidierung, „nicht zuletzt, wenn Spieler, denen es an ausreichend Kapital fehlt und die aufgrund von Dumping-Preisen niedrige Margen erzielen, ihr Geschäft aufgeben müssen“.

Erschließung von Wachstumsbereichen

Ein Beispiel hierfür ist ein Handels- und Logistikunternehmen im Bereich Pharma, in dem der Eigentümer & CEO sein Unternehmen sehr schnell neu positioniert hat, um u.a. mit Gesichtsmasken und Desinfektionsmitteln zu handeln – Produktlinien, die sie vorher nicht im Sortiment hatten. Ein anderes Beispiel ist ein Klimaanlagenhersteller im Bereich Automotive, der nun mit Hochdruck erforscht, ob und wie seine Geräte auch Viren aus der Luft filtern können.

Virtuelles Arbeiten

Viele Unternehmen, die gezwungen waren, virtuelles Arbeiten als Schutzmaßnahme einzuführen, spielen jetzt mit dem Gedanken, ob diese Arbeitsform selbst nach Lockerung der Beschränkungen durch die Regierung noch Vorteile haben könnte: weniger Geschäftsreisen bedeuten geringere Reisekosten und einen reduzieren CO2-Fußabdruck; mehr Mitarbeiter im Home Office könnten die Miete für teure Büros in Innenstadtlagen verringern und den Zeitverlust des Pendels minimieren. Während einige Manager sich noch mit persönlichen Präsentations- und Styling-Fragen für Videokonferenzen auseinandersetzen („Was ist die Kleiderordnung?“; „Wie vermittle ich Seriosität?“), besteht insgesamt kein Zweifel: „Die Technologie funktioniert“ – und wird auch in Zukunft stärker zum Einsatz kommen.

Digitalisierung

Mit virtuellem Arbeiten verbunden ist ein beschleunigter Wandel hin zu digitalen Geschäftsmodellen. Auf der Vertriebsseite wird die Marktbearbeitung durch E-Commerce und „Omni-Channel“ vorangetrieben werden, anstatt sich weiter in die Abhängigkeit vom ohnehin dezimierten klassischen Einzelhandel zu begeben.

Nachfolgeplanung

Mehrere Unternehmer, die durch die Krise schmerzhaft an die zu große Abhängigkeit von „unersetzlichen“ Schlüsselkräften erinnert wurden, haben jetzt damit begonnen, wesentlich systematischer ihre organisatorischen Mängel (u.a. Nachfolge-Systeme) und Talententwicklungserfordernisse anzugehen. Dies dürfte bei vielen als erster Schritt zum Aufbau eines verbesserten Personalentwicklungssystems dienen.

Verfügbarkeit von Arbeitskräften

Eine Reihe von FUs hatte zuvor Mühe, qualifizierte Arbeitskräfte und Talente in Ländern mit einem sehr angespannten Arbeitsmarkt und historisch niedrigen Arbeitslosenquoten (bspw. in Deutschland oder der Schweiz) zu gewinnen. Jetzt erwarten sie Umstrukturierungen und Massenentlassungen bei schwächeren Marktteilnehmern, wodurch qualifizierte Arbeitskräfte in höherem Maße verfügbar werden.

NextGen

Eine Unternehmerfamilie hat die Krise genutzt, um einen Ausbildungs- und Einarbeitungsprozess für die nächste Generation in Gang zu setzen mit dem Ziel ihnen zu helfen, im Laufe der Zeit gut informierte und sachkundige Gesellschafter zu werden. Dieser Prozess wurde während der Lockdown-Phase beschleunigt, da die Familienmitglieder zu Hause bleiben mussten und im Allgemeinen wesentlich besser verfügbar waren.

Insourcing

Eine Reihe von CEOs sehen eine Verlagerung zu mehr „Insourcing and Multiple Sourcing“. In der Pharmadistribution beispielsweise wird dies als ein großes Problem erkannt – mit einem (politisch motiviertem) Trend, die Herstellung von Pharma- und anderen Gesundheitsprodukten jetzt wieder verstärkt nach Europa zu verlagern. Ein Pharmadistributionsunternehmen hatte seit langem vor Engpässen bei der Belieferung im Falle einer Pandemie gewarnt, fühlte sich aber ignoriert. „Den Krankenversicherern und den Politikern ging es nur darum, die Kosten zu senken, und sie gaben daher der Belieferung aus Asien Vorrang. Jetzt werden sie zum Nachdenken gezwungen!“ Unternehmen suchen nach Möglichkeiten, Risiken zu verringern und bestehende Abhängigkeiten zu reduzieren, bspw. in der Produktion, wo „heute jeder von China abhängig ist“. „Die Lehre aus dieser Krise ist, nicht von nur einem Lieferanten abhängig sein zu dürfen.“

Eine neue Ära der Deglobalisierung?

Ob Financial Times, NZZ, FAZ oder Handelsblatt, in sehr vielen Medien wird in diesen Wochen u.a. das bevorstehende Ende der bisher gekannten Globalisierung und eine neue Ära der Lokalisierung diskutiert. Die Wiedereinführung eigentlich nicht gewollter, kontrollierter Grenzen quer durch Europa und Fabrikschließungen in Asien, die die weltweiten Lieferketten unterbrochen haben, scheinen den „Vertretern der Deglobalisierungsthese“ recht zu geben.

Einige unserer Interviewpartner überlegen daher, wie sie „den Übergang von der Effizienz zur Sicherheit in der Supply Chain“ gestalten können. Andere formulierten den Wunsch, eine derzeit „zu starke Abhängigkeit von China“ reduzieren und damit die Bedeutung für ihr Geschäft mittelfristig verringern zu wollen. Viele Unternehmensführer denken offenbar intensiv darüber nach, wie sie grundsätzlich die Belastbarkeit ihrer Organisation verbessern – und die Komplexität in den Geschäftsabläufen reduzieren können. „Lokalisierung“ als Strategie kann in einigen Bereichen sinnvoll sein – und nicht nur als Reaktion auf die Beschränkungen durch die Pandemie. Der Lebensmittel- und Pharmasektor, wo Verbrauchergeschmack und -bedürfnisse, aber auch staatliche Vorschriften eine große Rolle spielen, sind dafür gute Beispiele.

Die Mehrheit der Eigentümer und CEOs, mit denen wir gesprochen haben, ist jedoch der Meinung, dass diese Deglobalisierungsthese zumindest langfristig relativiert werden muss:

  • Sie sind der Ansicht, dass einige der Bedrohungen für die Globalisierung – wie etwa der zunehmende Nationalismus – bereits vor der Corona-Krise bestanden haben und Teil einer Entwicklung sind, „die kommt und auch wieder geht“. FUs mit einem langen institutionellen Gedächtnis wissen, dass sie solche politischen Tendenzen bereits lange vor der Corona-Krise durchlebt und als internationale Akteure auch überlebt haben.
  • Sie glauben, dass die Interdependenz zwischen Unternehmen und Ländern inzwischen so groß ist, dass die Globalisierung niemals vollständig rückgängig gemacht werden kann.
  • Der CEO eines weltweiten Konsumgüterunternehmens hält einen großen Teil der Deglobalisierungsdebatte für „emotionales Gerede“ und glaubt vielmehr, dass die eigentlich spannende Frage eher die nach den Währungsrisiken sein wird.
  • Der geschäftsführende Gesellschafter einer Schweizer Privatbank befürchtete zunächst, dass die Krise „der Anfang vom Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen“ sein könnte, hat seine Meinung nun aber geändert: „Jeder will auf Dauer in sein früheres Leben zurückkehren – und während wir sicher Veränderungen und Anpassungen erleben werden, werden die meisten Menschen und Unternehmen weiterhin grenzüberschreitend tätig sein.“

Das Grundgefühl aller Gesprächspartner lässt sich vielleicht in den Worten des Eigentümers eines B2B-Unternehmens zusammenfassen, der sagte, die Globalisierung „mag sich verlangsamen und es mag Schluckauf geben, aber wir beliefern große Industrien, unsere Kunden sind überall – und deshalb sind wir es natürlich auch“.

In unserem vierten und letzten Artikel werden wir uns der Frage zuwenden, die uns am meisten interessierte, als wir die Umfrage initiierten: Sind Familienunternehmen besser in der Lage, Krisen zu überstehen?