Grüne Energie wird zum entscheidenden Standortfaktor
Interview mit Prof. Dr.-Ing. Katja Windt (CDO) und Prof. Dr. Hans Ferkel (CTO), SMS group GmbH
von Eva Schulz-Kamm & Nick Harris
AvS – International Trusted Advisors nimmt erfolgreiche, eigentümergeführte Unternehmen in den Blick und beleuchtet, wie diese die Herausforderung meistern, sich gleichzeitig nach innen und nach außen zu transformieren. Welche Strategien verfolgen sie, um ihr Unternehmen nachhaltig aufzustellen und vor allem natürlich, wie sie ihren Kunden dabei helfen, diese anspruchsvolle Herausforderung zu bewältigen? Und wie nutzen sie gezielt digitale Technologien, um nachhaltigen Mehrwert zu schaffen? Dabei geht es immer auch um die Frage, wie Kulturwandel im Unternehmen gelingen kann: Es sind die Menschen, die Transformationen zum Erfolg führen. Wie ihnen das gelingt, wo es aber auch sensibel und knifflig wird, wollen wir hier besprechen.
Prof. Dr.-Ing. Katja Windt (geb. 1969 in Bonn) ist seit Januar 2018 Chief Digital Officer und Mitglied der Geschäftsführung der SMS group. Zuvor war sie vier Jahre lang Präsidentin der Jacobs University Bremen und leitete den Lehrstuhl für Global Production Logistics. Katja Windt promovierte nach ihrem Maschinenbaustudium an der Leibniz Universität Hannover im Jahr 2000 am Institut für Fabrikanlagen und Logistik. Sie ist Mitglied der Nationalen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina).
Prof. Dr. Hans Ferkel (geb. 1961 in Hamburg) ist seit 2019 Chief Technology Officer (CTO) und Mitglied der Geschäftsführung der SMS group. Zuvor leitete er acht Jahre den Forschungs- und Entwicklungsbereich von thyssenkrupp Steel. Zwischen 2004 und 2011 hatte Ferkel verschiedene Leitungsfunktionen im Forschungsbereich von Volkswagen inne. Hans Ferkel promovierte am Max-Planck-Institut für Strömungslehre, Göttingen und habilitierte im Bereich Werkstoffkunde an der Technischen Universität Clausthal
SMS group ist ein Weltmarktführer im Maschinen- und Anlagenbau für die Metallindustrie. Das Familienunternehmen blickt auf eine 150-jährige Geschichte zurück. Wegbereiter für eine kohlenstoffneutrale und nachhaltige Metallindustrie zu sein, ist das erklärte Ziel des Unternehmens. Heute beschäftigt SMS group weltweit rund 14.000 Mitarbeitende und erwirtschaftet einen Umsatz von über 2,7 Milliarden Euro.
AvS – International Trusted Advisors: Frau Prof. Windt, Herr Prof. Ferkel, Ihre Ziele sind sehr ehrgeizig. In 2026 wollen Sie mit der SMS group nicht nur der weltweit führende Anbieter für klimaneutrale Produktionsverfahren in der Metallindustrie sein, sondern auch die Firma als vormals klassischen Maschinenbauer zum Dienstleister für Komplettlösungen aufgestellt haben. Die Stahlherstellung, für die Sie im Kerngeschäft alles vom Hochofen bis zum Walzwerk und zur Bandanlage bauen, hält heute leider den unrühmlichen ersten Platz als größter industrieller CO2-Erzeuger. Hier für mehr Klimaschutz zu sorgen, klingt nach einer Mammutaufgabe.
Prof. Dr. Katja Windt: Das ist einer der Gründe, warum ich vor dreieinhalb Jahren bei SMS angefangen habe: Die Herausforderung ist hoch und die Aufgabe extrem spannend. SMS hat mit seinen technologischen Innovationen und als Komplettanbieter in der Metallindustrie das Wettbewerbsfeld immer angeführt, und das bereits seit 150 Jahren. Jetzt setzen wir die Digitalisierung entlang der Wertschöpfungskette in der Metallerzeugung und -verarbeitung ganz systematisch ein und erschließen hier neue Leistungs- und Geschäftspotenziale. Unsere Service-Bereiche Elektrik & Automation, Digitalisierung sowie Technischer Service gehen da kombiniert vor. In unseren Sensorik- und Automationssystemen werden die Daten erzeugt, die dann von unseren Prozess- und Digitalexperten mit KI-Algorithmen ausgewertet werden. Durch das Erkennen neuer Muster aus Parameterkombinationen können wir zum Beispiel vorhersagen, wann die Komponente einer Anlage ausfallen wird und den Maintenance-Zyklus entsprechend anpassen.
Damit bekommen wir neue Hebel für einen effizienteren Materialeinsatz, aber auch für mehr Klimaschutz. Unsere Kunden treiben hochkomplexe Fragestellungen um: Bereits in der nächsten Dekade wollen und müssen Hersteller Stahl klimaneutral produzieren und ressourcenschonend verarbeiten können. Es geht nicht mehr ausschließlich um Kosteneinsparungen. Vermehrt helfen wir bei Fragen, wie unsere Kunden ihren Abnehmern bessere und nachhaltigere Produkte anbieten können. Da stellen wir nicht mehr einfach nur die Maschinen oder Anlagen hin. Wir nutzen das gesamte Innovationsportfolio aus Mechanik, Automation und Digitalisierung kombiniert mit unserer Beratungsexpertise und werden quasi zu Kollegen auf Zeit bei unseren Kunden. Durch den Einsatz von Data Analytics verstehen wir die komplexen Wirkzusammenhänge besser und können so performance-orientierte Geschäftsmodelle anbieten. So helfen wir unseren Kunden, die Leistung ihrer Anlage zu steigern. Dies betrifft auch die CO2 Reduktion, etwa durch unsere Energy Applikation. Zudem fragen Kunden inzwischen explizit digitale Softwareprodukte und Services nach. Dieser Bereich wird für uns immer wichtiger.
Prof. Dr. Hans Ferkel: Mammutaufgabe ist ein guter Begriff. Ich bin vor zwei Jahren an Bord gekommen, übrigens gerade deswegen, weil SMS als Familienunternehmen langen Atem bewiesen hat. Wenn der Wind kalt und stark bläst, schauen wir hier nicht panisch auf die Zahlen, sondern nehmen uns die Zeit, denken das durch und besprechen das in großer Offenheit. Und dann reden wir vor allem nicht nur, sondern setzen unseren Plan auch um. Ein Beispiel: In der boomenden Elektromobilität suchen Batteriehersteller und Autobauer nach Wegen, Batterien zu recyceln und insbesondere die darin enthaltenen wertvollen Metalle zurückzugewinnen, und dies möglichst ohne dabei neue Emissionen wie CO2 zu verursachen. Wir haben entschieden, in den neuen strategischen Bereich Recycling einzusteigen und haben dieses Jahr Nägel mit Köpfen gemacht. Mit Primobius, einem Joint Venture mit der australischen Neometals, werden wir noch dieses Jahr mit der ersten Pilotanalage starten und in der ersten Stufe bis zu 1.000 Tonnen Lithium-Ionen-Batterien pro Jahr für unsere Kunden recyceln.
AvS: Für die vollautomatisierte Fabrik oder Fernwartung beim Kunden werden Sie bei SMS vermutlich gute Softwareentwickler haben und noch viele weitere brauchen. Wie locken Sie die jungen Digitalexperten zu einem vormals klassischen Anlagenbauer? Und wie schaffen Sie es, dass die eher handfesten Ingenieure Hand in Hand mit virtuosen Datenspezialisten zusammenarbeiten?
Windt: Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, wie wir die besten Digitalexperten gewinnen können. Alle Unternehmen kämpfen um gute Softwareentwickler, die ja Mangelware sind. Wir haben aber festgestellt, dass wir als Familienunternehmen, mit unseren anspruchsvollen Produkten und vor allem unserer Rolle als „enabler“ nachhaltiger Produktionsprozesse auch reizvoll gerade für viele jüngere Bewerber sind. Dabei gehen wir auch ungewöhnliche Wege im Recruiting und waren etwa auf der Computerspielemesse Gamescom in Köln vertreten, um unsere Zielgruppe zu erreichen. In den Gesprächen mit Entwicklern haben wir deutlich gemacht, dass wir mit den Daten aus den vielen Sensoren in unseren Anlagen nicht nur das Produkt enorm verbessern können, sondern dass auch das Ergebnis der eigenen Arbeit sehr real und handfest ist. Es ist vielleicht auch sinnstiftender, als das nächste unterhaltsame Computerspiel zu programmieren.
Ferkel: Wir haben natürlich schon früher Anlagen und Prozesse optimiert; wir kennen unsere Anlagen genau und können die darin ablaufenden Prozesse modellieren und berechnen. Beim Betrieb der Anlagen fallen erhebliche Mengen an Daten an. Jetzt kommen die jungen Digitalkollegen und wollen mit den Zahlen zaubern. Sie müssen aber erst einmal lernen, die richtigen Zahlen zusammenzubringen, diese zu korrelieren und dann auch richtig zu interpretieren. Wie genau läuft der Prozess? Wie ist die Temperaturführung? Was muss ich machen, damit wirklich Qualität rauskommt und das Ergebnis wirtschaftlich ist? Aber gerade in dieser konstruktiven Zusammenarbeit entstehen neue Erkenntnisse und Lösungen für unseren Kunden.
Windt: Wesentlich dabei ist, dass die Teams voneinander lernen. Da wir auch unserer internen Prozesse immer weiter digitalisieren wollen, ist es wichtig, dass die Digitalkollegen vermitteln, was Digitalisierung leisten kann.
AvS: Das klingt vermutlich einfacher als es ist. Klappt das?
Ferkel: Der Wissenstransfer und der Austausch zwischen Alt und Jung – das gelingt schon ganz gut. Die Kollegen lernen viel voneinander und erweitern so ihren Horizont.
Windt: Das klappt mal so mal so, würde ich sagen, aber wir werden immer besser.
AvS: Was ist denn Ihr Erfolgsrezept, dass dieser kulturelle Wandel und das wechselseitige Lernen gelingen und beide Teams in einer Mannschaft spielen und gewinnen?
Windt: Zuhören ist wichtig auf beiden Seiten, sich einzulassen auf das jeweilige Neuland und zu verstehen, wie das in meiner Welt neue Möglichkeiten eröffnet. Dann braucht es unbedingt die Anerkennung für gemeinsam erzielte Erfolge – auch die kleinen. Wenn alle gemeinsam hoch zum Gipfel wollen, dann ist das ein weiter Weg. Dabei hilft es schon, wenn die erste und zweite Zwischenetappe geschafft ist und alle sehen: Es geht doch. Die Anerkennung muss vor allem von den Führungskräften kommen, dann wächst eine Kultur der Wertschätzung und Zuversicht und der Glaube daran: Wir schaffen das, gerade weil wir unterschiedliche Stärken einbringen, um die Aufgabe zu stemmen.
Für unsere eigene digitale Transformation bei SMS haben wir ein neues Konzept ausprobiert, das sich sehr gut bewährt. Wir haben Digitale Botschafter – unsere Digital Ambassadors – ausgerufen und Freiwillige gesucht, die andere Kolleginnen und Kollegen fit machen in digitalen Themen. Dafür stellen wir ihnen ein Stundenkontingent zur Verfügung, in dem sie als Botschafter wirken können. Das wird sehr gut angenommen und ermöglicht Spielräume für Austausch, Innovation und Lernen.
Gerade die Freiwilligkeit ist wichtig – eben nicht klassisch als Auftrag an die Fachabteilung. Das läuft eigeninitiativ und informell – in der Kaffeeküche, als Podcast, in virtuellen Meetings oder selbst geschaffenen Lernräumen und über Abteilungsgrenzen hinweg. Genau das wollen wir erreichen.
Ferkel: Für mich ist gegenseitige Wertschätzung und die gemeinsame Anerkennung von Erfolgen wichtig, damit die Generationen voneinander lernen können. Ich erinnere mich an ein Fest vor Corona, da gab es diese zwei ganz unterschiedlichen Generationen, die Kollegen mit oft mehr als 25 Jahren Berufserfahrung und dann die jungen Kollegen, viele noch nicht einmal 30 Jahre. Das war interessant zu sehen, wie die sich über den Wandel durch Digitalisierung ausgetauscht haben. Das hat mich schon sehr fasziniert. Wenn Berührungsängste überwunden sind, werden auch Themen jenseits der Fachlichkeit angesprochen. Das schafft das nötige Vertrauen, um auch die Dinge auf den Tisch zu bekommen, die nicht gut laufen. Am Ende führt das dazu, dass wir nicht nur besser zusammenarbeiten, sondern auch weniger Fehler machen, weil alle und ganz verschiedene Aspekte – da können hochrelevante Informationen dabei sein – einfließen.
Ganz entscheidend für eine gute Zusammenarbeit ist natürlich auch Diversität, und in unserem Fall besonders ein höherer Frauenanteil. Als traditioneller Anlagenbauer müssen wir hier noch aufholen und mehr Frauen für unsere Branche gewinnen.
Windt: Das Führungsteam ist in der Tat für die erfolgreiche digitale Transformation entscheidend. Wir alle gemeinsam im Führungsteam haben das gleiche Verständnis, was wir erreichen wollen und vor allem auch, warum wir das tun wollen. Bei uns liegt die Verantwortung, den Rahmen für Veränderungen zu schaffen. Dieser muss nachvollziehbar sein, um dann die nächsten Führungsebenen mit einzubeziehen und um gemeinsam ans Ziel zu kommen.
AvS: Kommen wir zu Ihrer ambitionierten Strategie, mit SMS die Stahlindustrie zu dekarbonisieren. Als Komplettanbieter und Innovationsführer haben Sie ja die technologischen Zutaten alle zur Hand. Wo liegen denn die besonderen Herausforderungen?
Ferkel: Unsere Kunden haben sich sehr ehrgeizige Klimaziele gesetzt und wollen entlang der gesamten Wertschöpfungskette Emissionen minimieren. Dabei geht es um den Einsatz von grünem Wasserstoff statt Kokskohle, aber auch um eine höhere Ressourceneffizienz. Viele Stahlwerke starten ihre Transformation im Bestand, weil die Anlagen über mehrere Jahrzehnte abgeschrieben werden. Hier helfen wir mit Roadmaps, wie wir bei notwendigen Ersatzinvestitionen für das Stahlwerk die nachhaltigste Produktlösung integrieren. Es gibt aber auch Projekte auf der grünen Wiese wie in Nordschweden. Hier entsteht das erste und größte Stahlwerk, das fünf Millionen Tonnen grünen Stahl pro Jahr produzieren soll – auf Basis von grünem Wasserstoff und damit vollständig CO2-neutral. Hier können wir unser Innovationsportfolio voll einbringen.
Noch ist das aber ein einzelnes Leuchtturmprojekt. Denn es fehlen die politischen Rahmenbedingungen zum zügigen Hochfahren der Wasserstoffproduktion, dem Ausbau erneuerbarer Energien und der nötigen Infrastruktur. Wir haben zudem eine extreme Konkurrenzsituation: Unternehmen für klimaneutrale Mobilität, aus der Stromwirtschaft, der chemischen Industrie – alle benötigen mittel- und langfristig grünen Strom oder Wasserstoff. Und dann nicht zuletzt noch der Endverbraucher für Auto oder Wohnung.
Windt: Und auch CO2, das aus industriellen Prozessen zuvor abgeschieden worden ist, wird zum begehrten Rohstoff, beispielswiese bei der Herstellung von klimaneutralen Kraftstoffen. Zusammen mit grünem Wasserstoff und CO2 können unsere Kunden in mehreren Schritten e-Kerosin zur Dekarbonisierung des Flugverkehrs oder e-Benzin für Schwerlasttransporte herstellen. Wir haben uns an der Firma Sunfire beteiligt, die über ihr innovatives Hochtemperatur-Elektrolyseverfahren die Herstellung solcher neuen Kraftstoffe direkt angeschlossen an ein Stahlwerk ermöglicht. Das ist quasi die industrielle Photosynthese.
Wir werden einen neuen Standortwettbewerb sehen, einen neuen Kampf um die Ansiedlung von Unternehmen, die klimaneutral und nachhaltig wirtschaften wollen. Früher waren es gute Straßen oder eine attraktive Standortfinanzierung oder in unserer Stahlbranche die Vorkommen von Kohle, die Unternehmen angezogen haben. Morgen wird das die zuverlässige Infrastruktur vor Ort mit grünem Strom und Wasserstoff sein sowie die Versorgung mit C02-Quellen. Hierauf müssen sich Politikentscheider in Deutschland und Europa einstellen, wenn eine künftig klimaneutrale Industrie mit ihrer Wertschöpfung und Arbeitsplätzen gehalten werden soll. Mit Blick auf Deutschland ist jetzt schnelles Handeln nötig, damit wir unsere gute Position zum Thema Nachhaltigkeit im internationalen Wettbewerb nicht verspielen.
AvS: Frau Prof. Windt, Herr Prof. Ferkel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führten Eva Schulz-Kamm und Helene Grimm, AvS – International Trusted Advisors, im Juli 2021 in der Konzernzentrale der SMS group in Düsseldorf.