Digitale Kompetenz für den Beirat
Familienunternehmen in Zeiten disruptiven Wandels zukunftssicher gestalten
Die Corona-Pandemie hat es deutlich gemacht: Die Nutzung digitaler Technologien ist nicht mehr nur eine Option. Digitale Tools und Geschäftsmodelle sind in der „neuen Realität“ zu Kernbausteinen eines jeden Unternehmens geworden: Das Mehr an technologischer Orientierung und digitaler Abhängigkeit hat den Digitalisierungsprozess in allen Branchen und Märkten erzwungen. Dieser Trend ist nicht neu – er wurde lediglich durch die globale Pandemie verstärkt.
Ein entscheidender Faktor für das langfristige Überleben und den Erfolg von Familienunternehmen wird demnach sein, sich dieser neuen Realität zu stellen und dabei gleichzeitig die Nachfolge zwischen den Generationen auf der Ebene der Eigentümer und des Vorstands gestalten zu können. Wenn man dies gut umsetzt, bietet sich hier eine einmalige Gelegenheit. Wird diese allerdings verpasst, läuft man in ein enormes Risiko – möglicherweise der größte externe Risikofaktor, mit dem Unternehmerfamilien und ihr Betriebsvermögen heute konfrontiert sind. Die Wucht und das Tempo des Wandels (und damit sowohl die Chance als auch das Risiko) werden durch das Kapital, das durch die von Covid-19 ausgelösten staatlichen Anreize nach wie vor in die Weltwirtschaft fließt, noch verstärkt. Familienunternehmen mit Governance-Modellen, die auf Management- und Vorstandsebene gut auf Nachfolge- und Digitalisierungsthemen vorbereitet sind, sollten diese Quelle von Anreizkapital klug nutzen und es für die richtigen digitalen Initiativen einsetzen. Denn diejenigen, denen es an Kompetenz in diesem Bereich mangelt, laufen Gefahr, schlechte Entscheidungen zu treffen, Kapital falsch einzusetzen oder, was noch schlimmer wäre, die Chancen zu verpassen, die die neue Realität bietet – und stattdessen ihr Opfer zu werden.
Die Geschwindigkeit des Wandels und der Druck, sich diesem anzupassen, nimmt im heutigen Kontext der volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Rahmenbedingungen (im Englischen VUCA, für volatile, uncertain, complex and ambigious) ständig zu. In solchen Zeiten sind die Eigentümer gefordert, ihre Verantwortung wahrzunehmen und den zukunftsorientierten Wandel proaktiv zu fördern. Dies muss auf der Ebene der Gremien beginnen. „Der Eigentümer“ muss klug handeln und ständig überprüfen, ob der Beirat als Team wirklich über die notwendigen Fähigkeiten und das Fachwissen verfügt, um die Unternehmensführung angemessen zu beaufsichtigen und zukunftsorientiert positiv zu beeinflussen. In der neuen Realität hat sich die Definition der erforderlichen Fähigkeiten geändert: Digitales Fachwissen wird zu einer entscheidenden Fähigkeit für jeden Beirat. Alles andere als ein professioneller Beirat wird der Verantwortung eines legitimen Eigentümers nicht gerecht. Aber nicht alle Beiräte sind gleich.
Nach unseren Beobachtungen durchlaufen Beiräte in Deutschland und im Ausland in der Regel drei Entwicklungsphasen. Wenn ein Beirat zum ersten Mal eingerichtet wird – oft von einem Gründer oder einem Patriarchen bzw. einer Matriarchin –, umgibt er oder sie sich gerne mit wenigen vertrauten Beratern, ohne ihnen dabei wirklich ernsthafte Verantwortung zu übertragen. Der Vorstand wird also mit „Freunden und Familie“ besetzt, die das Mandat als Ehre, Belohnung oder soziale Verpflichtung betrachten. Solche Beiratsmitglieder verfolgen typischerweise harmoniegetriebene Motive und zögern häufig, eine unabhängige Meinung zu entwickeln und zu äußern.
In der zweiten Phase gehören dem Beirat unabhängige Außenstehende an, die aufgrund ihrer individuellen Leistungen und ihres Rufs ausgewählt wurden, um das Unternehmen und seine Eigentümer zu ehren und zu „schmücken“ – ohne dass zuvor sichergestellt wurde, dass sie (1.) in der spezifischen Rolle eines Beiratsmitglieds effektiv agieren und dass sie (2.) tatsächlich das Engagement, das Fachwissen und die Zeit haben, um zu einer erstklassigen Unternehmensführung beitragen zu können. In extremen Fällen können die Mitglieder eines solchen „Vorzeigebeirats“ („Trophy Board“) dominante Alpha-Persönlichkeiten sein, die bisweilen von Ego und Eitelkeit angetrieben werden. Diese sind womöglich mehr daran gewöhnt, dass man ihnen zuhört, als dass sie zuhören. Und sie neigen dazu zu erwarten, dass man ihren Bedürfnissen gerecht wird, statt der Unternehmensführung tatsächlich zu helfen und sie zu unterstützen.
In der dritten Phase des „professionellen Beirats“, die nur wenige Gremien tatsächlich erreichen, findet man fähige, engagierte und bescheidene Beiratsmitglieder, die unabhängig und kompetent sind und die sich voll und ganz der Zukunftssicherung des Unternehmens widmen. Sie streben danach, wirklich etwas zu bewirken, und wollen sich gegenseitig im Sinne eines echten Teams ergänzen, zu dem jedes Mitglied sein spezifisches Fachwissen beisteuert.
Ein professioneller Beirat arbeitet als Team auf der Grundlage einer gut durchdachten kurz-, mittel- und langfristigen Agenda mit relevanten Themen und einer vernünftigen Aufgaben- und Zeiteinteilung entlang eines einheitlichen Fahrplans in jeder Beiratssitzung. Während der Sitzungen sind die Mitglieder zu 100% anwesend, d.h. niemand wird durch Smartphones usw. abgelenkt, und die Sitzungen sind von Aufmerksamkeit, Leistung und positiver Energie geprägt. Die Mitglieder erhalten alle relevanten Materialien mit ausreichend Vorlaufzeit, in der Regel eine Woche vor der Sitzung. So wird die Sitzungszeit nicht für Präsentationen, sondern für Fragen, Kommentare und Vorschläge genutzt – es werden Themen diskutiert und nicht nur Informationen aufgenommen. Ein professioneller Beirat widmet etwa 70% seiner Zeit der Reflexion und Diskussion über die Zukunft des Unternehmens und die langfristige Kapitalverteilung der Eigentümer. Er kultiviert eine Atmosphäre offener, bedachter Diskussionen, in denen Ideen frei fließen und respektvolle Meinungsverschiedenheiten eher gefördert als unterdrückt werden. Der Beirat unterzieht sich einer regelmäßigen Bewertung seiner Leistung, entweder im Rahmen einer Selbstbewertung oder vorzugsweise mit Hilfe kompetenter externer Experten. Er steht für Reife und Bedeutsamkeit, die durch Erfahrung und nicht durch egozentrischen Charakter oder Eitelkeiten erworben wurden. Man ist hier bestrebt, das Managementteam auf seinem Weg in die digitale Zukunft zu begleiten, konstruktiv herauszufordern und zu befähigen, und ist sich der Rolle als Vertreter der Eigentümer und Wahrer ihrer Interessen bewusst.
Da das Agieren als ein Team einen guten Beirat auszeichnet, ist seine Zusammensetzung entscheidend. Mehrere Studien haben einen Zusammenhang zwischen der Diversität in Gremien und dem Unternehmenserfolg aufgezeigt. Vielfalt hat mehrere Dimensionen wie Geschlecht, Alter, Nationalität bzw. internationale Erfahrung, sozialer und beruflicher Hintergrund. Aber sie geht über diese äußeren „Etiketten“ hinaus. Bei der Auswahl von Beiratsmitgliedern ist es wichtig zu verstehen, wie sie denken und fühlen, um eine echte Vielfalt von Perspektiven zu erreichen. Erfahrungen, Fähigkeiten und Denkweisen sollten sich im Beirat ergänzen. Wie sieht also ein professioneller Beirat mit einer guten Zusammensetzung aus? Wir sind der Meinung, dass die Mitglieder nach mehreren Gesichtspunkten ausgewählt werden müssen:
- Einschlägige Erfahrung – diese kann funktions-, branchen- oder themenbezogen sein, aber auch einfach Erfahrung aus Führungspositionen in Unternehmen oder sogar im öffentlichen Dienst darstellen. Digitales Know-how ist mit seinen besonderen Charakteristika heute eine zentrale Voraussetzung.
- Analytische Stärke – Beiräte müssen in der Lage sein, große Mengen komplexer und gelegentlich mehrdeutiger Informationen zu verarbeiten und das Wesentliche daraus zu filtern.
- Gesundes Urteilsvermögen – Beiratsmitglieder müssen insbesondere in Krisensituationen Entscheidungen auf der Grundlage begrenzter Fakten treffen können und dürfen nicht unter einer „Paralyse durch Analyse“ leiden.
- Bescheidene und konstruktive Einstellung – Beiräte sollten echtes zeitliches Engagement und ein gewisses Maß an Genügsamkeit zeigen: Sie sollten wirklich einen Beitrag zur Zukunftssicherung des Unternehmens leisten wollen und ihre Interventionen auf das beschränken, was der Gruppe zugutekommt, anstatt nur die Bestätigung der eigenen Ansichten zu suchen.
- Ehrlichkeit, Integrität und Unabhängigkeit – Beiratsmitglieder müssen gute Unternehmensführung und offene Kommunikation verkörpern.
- Echte Teamarbeit – Beiräte müssen in der Lage sein, als Team zu arbeiten: Sie müssen unterschiedliche Standpunkte anhören und würdigen können, und sie müssen sich verpflichten, einen Beitrag für die gemeinsame größere Sache zu leisten.
Es ist leichter gesagt als getan, die digitale Kompetenz eines Beirats sicherzustellen und digital fähige Mitglieder zu gewinnen. Nur wenige Unternehmen verfügen über eine klar definierte digitale Rekrutierungsstrategie und wissen genau, wie dieser Talentpool denkt und sich verhält. Man muss sich dabei im Klaren sein, dass die Nachfrage nach digitalen Talenten, ob auf Beirats- oder Managementebene, das Angebot bei weitem übersteigt. Und während man früher davon ausging, dass die meisten Führungskräfte oder Unternehmer irgendwann einmal eine Beiratsfunktion übernehmen wollen, ist dies bei digitalen Talenten keine Selbstverständlichkeit. Die Dinge, die sie am Tagesgeschäft am meisten schätzen – Autonomie, unternehmerische Freiheit, Offenheit und hohe Kommunikationsfrequenz, fehlende Hierarchien, schnelle Entscheidungsfindung, schnelle Ergebnisse – sind Qualitäten, die sie (meist zurecht) in größeren oder traditionelleren Organisationen wie jenen im Mittelstand nicht erwarten. Einige namhafte Digitalunternehmer würden die Vorstellung, Teil eines traditionellen, nicht digital ausgerichteten Unternehmens mit einem nicht wirklich professionellen Beirat zu sein, als Qual bezeichnen. Dahinter stehen Gedanken wie: „Warum sollte ich meinen Ruf aufs Spiel setzen und einer Gruppe beitreten, die vielleicht nicht einmal zuhören und ihren Horizont erweitern will, wenn ich in derselben Zeit ein anderes digitales Unternehmen von Grund auf aufbauen oder unterstützen kann?“. Außerdem wird es nicht ausreichen, nur ein „digitales“ Beiratsmitglied zu ernennen. Wenn potenzielle „digitale“ Beiräte das Risiko sehen, nur als Experte für ein bestimmtes Thema und nicht als gleichberechtigter Partner gesehen zu werden, werden sie nicht in Erwägung ziehen, in einem Mittelstandsgremium mitzuarbeiten. Unter diesen Umständen wird bestenfalls der volle Nutzen ihrer Perspektive nicht ausgeschöpft. Schlimmstenfalls werden sie gar nicht erst Teil des Beirats, oder sie werden frustriert sein und das Gremium schnell wieder verlassen.
Sobald ein geeigneter Kandidat gefunden ist, muss der Onboarding-Prozess eines „digitalen“ Beiratsmitglieds sorgfältig gesteuert werden. Die Akteure in den bestehenden Organisationsstrukturen müssen akzeptieren, dass ein digitales Verwaltungsratsmitglied wahrscheinlich jünger ist und möglicherweise bislang einen Karriereweg bestritten hat, der als untypisch wahrgenommen wird. Die Arbeits- und Kommunikationsstile der Digital Natives können sehr (und manchmal auch radikal) unterschiedlich sein. Die Verbesserung des Beirats in Sachen digitaler Kompetenz wird sich langfristig für alle auszahlen – aber man darf nicht davon ausgehen, dass es immer ohne Schwierigkeiten gehen wird oder dass alle vom ersten Tag an dieselbe Sprache sprechen. Hier können externe Experten helfen, indem sie jüngere, „digitale“ Beiratskandidaten identifizieren und für das Unternehmen gewinnen, aber auch indem sie im weiteren Verlauf das „Onboarding“ begleiten und den verjüngten Beirat darin unterstützen, „seine PS auf die Straße zu bringen“.