Noch nie hat sich die Branche so dramatisch schnell gewandelt

Ein Interview mit Jan Zijderveld, CEO von Avon Products Inc.

von Andreas von Specht

Mit einem Nettoumsatz von 5,7 Milliarden US-Dollar ist Avon das zweitgrößte Direktvertriebsunternehmen der Welt. Avon bietet Produkte in den Kategorien Beauty, Haushalt und Körperpflege an, die durch ein Netzwerk von fast sechs Millionen Avon-Vertreterinnen vertrieben werden. Direktvertriebsunternehmen wie Avon stehen im digitalen Zeitalter vor enormen Herausforderungen: Nicht nur tätigen Verbraucher ihre Einkäufe zunehmend online; auch haben technologische Neuerungen es Marken und Einzelhändlern ermöglicht, zunehmend personalisierte Dienstleistungen anzubieten – ein entscheidender Wettbewerbsvorteil, der zuvor vor allem Direktverkäufern vorbehalten war. Wie wird Avon dieser Herausforderung begegnen? TTA sprach mit CEO Jan Zijderverld über seine Veränderungsmission.

Was ist das Besondere an Avons Geschäftsmodell und warum halten Sie am Modell des Direktvertriebs fest?

Einzigartig an Avon ist unser Netzwerk von Vertreterinnen, unser Glaube an die „Demokratisierung der Schönheit“ – die neusten Trends und Innovationen hochwertiger Produkte für alle zugänglich zu machen – kombiniert mit unserer Fähigkeit zu bilden, zu engagieren und zu mobilisieren. Ich bin davon überzeugt, dass die Beziehung eines Direktvertrieblers zu seinem Kunden eine sehr starke ist. Unsere Marken sind weltweit bekannt und werden sehr geschätzt – mit nahezu 100% Bekanntheitsgrad in den wichtigsten Märkten. Unsere Unternehmensphilosophie baute von Beginn an auf vertrauensvolle und wertschätzende Beziehungen. Unser Netzwerk von Vertreterinnen, unsere sog. „beauty entrepreneurs“, ermöglicht uns eine direkte und authentische Beziehung zu den Verbrauchern. Dadurch wird das „Avon-Erlebnis“ sehr persönlich. Unsere sechs Millionen Vertreterinnen kennen und lieben die Produkte, die sie verkaufen, da sie sie selbst täglich verwenden. Darüber hinaus teilen sie mit den Verbraucherinnen eine gemeinsame Leidenschaft für innovative Schönheits-Trends. Ich habe Hunderte von ihnen kennengelernt und sie glauben fest an Avon. In einer Welt, in der das Vertrauen in Unternehmen zunehmend schwindet, ermöglicht uns die Beziehung der Vertreterinnen zu den Verbrauchern Stärke bei Preispolitik und Kommunikation – und bietet unseren Kunden ein sehr persönliches Markenerlebnis.

Mit welchen Herausforderungen sieht sich ein Direktvertriebsunternehmen wie Avon konfrontiert und wie planen Sie, darauf zu reagieren?

Noch nie hat sich die Branche so dramatisch schnell gewandelt wie heute. Die digitale Welt ist schneller und Netzwerke werden immer umfangreicher. Mit der Zeit zu gehen muss daher ein essentieller Teil von Avons DNA sein. Wir müssen Avon modernisieren, mutiger und drastischer agieren – und unsere bisherige Arbeitsweise fundamental ändern. Wir müssen uns öffnen und beginnen zu hinterfragen und zu verändern, wie und woran wir arbeiten. Das bedeutet, dass wir die Marke Avon einer Verjüngungskur unterziehen müssen, dass wir unsere Produkte und unser Portfolio stärker für uns arbeiten lassen müssen und schließlich, dass wir die Vorteile, die die Digitalisierung mit sich bringt, für unsere ‚beauty entrepreneurs‘ auf der ganzen Welt zugänglich machen. Durch unsere geografische Präsenz sind wir für Wachstum gut positioniert: der Großteil unseres Geschäfts entfällt auf wachsende Schwellen- und Entwicklungsländer. Unsere wichtigste Kategorie – Beauty – ist sehr gefragt und verfügt über eine hohe Gewinnspanne. Entscheidend ist, dass wir unser Unternehmen digitalisieren, um den Direktverkäuferinnen und Kunden die Zusammenarbeit mit uns zu erleichtern. Dem Vorbild von Fast-Fashion-Marken folgend, verwandeln wir Avon in eine High-Touch-, High-Tech-, High-Impact- und Fast-Beauty-Marke. Wir schauen ganz neu auf unser Geschäftsmodell – und das mit der gebotenen Eile, so wie man das in dieser Situation auch erwarten darf.

Wie wollen Sie das Geschäftsmodell von Avon im Zeitalter der Digitalisierung erhalten?

Digitalisierung ist das Herzstück unserer Strategie. Social Selling – der Aufbau von Kundenbeziehungen über soziale Netzwerke – ist reif für technologischen und digitalen Wandel. Wir arbeiten intensiv daran, die richtigen Tools für unsere sechs Millionen Vertreterinnen zur Verfügung zu stellen – damit diese ihren Kundinnen mit Hilfe digitaler Features einen optimalen, persönlichen Service bieten können. Keine Zwischenhändler zwischen der Marke, unseren Verbraucherinnen und unserem Vertrieb zu haben, stellt für mich eine herausragende Chance des Avon-Geschäfts dar.

Welche einzelnen Schritte werden umgesetzt, um zu einem „digitalisierten Avon“ zu werden?

Der Begriff “digitalisieren” kann zu Fehlinterpretationen und Verwirrung führen. Für uns bedeutet es die Digitalisierung des gesamten Unternehmens – vom Anfang der Wertschöpfungskette bis zum Ende. Für Avon ist dies eine Zeit erheblicher Veränderungen; kundenfreundliche, digitale Oberflächen, unterstützt durch eine effiziente Technologieinfrastruktur und umfangreiche Datenanalysen, sind ein entscheidender strategischer Erfolgsfaktor für unsere künftige Entwicklung. Wir haben bereits eine komplett digitalisierte, interaktive Broschüre für die mobile Nutzung auf den Markt gebracht. Unsere Vertreterinnen können dadurch schnell und effektiv mit ihren Kundinnen in Kontakt treten und ihnen die neuesten Trends und Produkte direkt auf ihre mobilen Endgeräte senden, indem sie einen virtuellen, personalisierten Einkaufswagen erstellen, der über WhatsApp und Facebook Messenger gemeinsam genutzt werden kann. Hierzu gehören integrierte Echtzeit-Analysen für künftige Verbesserungen und Individualisierungen, die es auch leichter machen, die meistverkauften Produkte und individuelle Präferenzen zu verfolgen. Nach der Markteinführung verzeichnete das Tool mehr als 500.000 Besucher – mit positiven Rückmeldungen aus dem gesamten Avon-Netzwerk. Pläne für den „My Avon Store“ sind ebenfalls bereits in Arbeit. Dies wird unseren selbstständigen Vertreterinnen ermöglichen, einen eigenen Shop sowie ein komplett digitales Geschäft zu betreiben. Schließlich haben wir uns sehr über die extrem positive Resonanz auf unser Pilotprojekt „Personalised Beauty App“ gefreut. Dieses ziemlich revolutionäre digitale Tool ermöglicht unseren Vertreterinnen, personalisierten Service für unsere Kunden auf einem ganz neuen Niveau zu bieten – schnell, bequem und vertrauensvoll. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Technologie einen echten Vorteil bietet, der wirklich gut ankommt.

Sie sprechen von einer großen Veränderung des Avon-Geschäftsmodells. Mussten Sie Ihr Top-Management austauschen, um diese sanfte digitale Revolution umzusetzen? 

Wir haben kontinuierlich neue Talente und Ressourcen in das Unternehmen eingebracht. Dazu gehört auch die neu geschaffene Rolle des SVP, Chief Digital & Information Technology Officer. Benedetto Conversano ist ein herausragendes Talent, von dem wir im Hinblick auf seine kundenorientierten, technologischen, digitalen und operativen Fähigkeiten stark profitieren werden. Er wird für die Entwicklung einer neuen digitalen Strategie verantwortlich sein, ein grundlegender Baustein unserer künftigen Ausrichtung, während die Entwicklung, Standardisierung und unternehmensweite Implementierung von Technologielösungen umgesetzt wird. Wir wollen radikal überdenken, wie wir die entscheidenden Veränderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, nutzen können, um uns zu einer „Fast-Beauty“-Marke in der Omni-Vertriebskanal-Welt zu entwickeln. Dafür ist natürlich auch unsere globale Vertriebsorganisation von entscheidender Bedeutung, die aus führenden Experten mit ganz direktem Einfluss in den jeweiligen Märkten besteht. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Verbesserung und Weiterentwicklung des Servicemodells, der Segmentierung und weiteren Optimierung des Direktvertriebs und der Eintrittsstrategien für neue Regionen. Unter Nutzung datengestützter Erkenntnisse werden unseren Klein-Unternehmerinnen maßgeschneiderte Weiterbildungsmöglichkeiten und Leistungsprämien geboten. Wir wissen natürlich, dass die Verbesserung des Verdienstpotentials unserer eigenständigen Direktvertrieblerinnen für unseren Unternehmenserfolg sehr wichtig ist. Aber auch die Erweiterung der Weiterbildungsmöglichkeiten und der Ausbau des „best-practice“-Austauschs sind von grundlegender Bedeutung. Wir bauen gerade die richtige Struktur auf, um eine konsequente Leistungskultur zu etablieren, in der wir die Verantwortung für Umsetzung und Ergebnisse drastisch erhöhen.

Haben Sie so etwas wie einen „digitalen Beirat“ aus externen Geschäftsführern und/oder Experten mit langjähriger Erfahrung in der digitalen Organisation und Transformation geschaffen – oder  managen Sie den Transformationsprozess selbst?

Im Rahmen unserer digitalen Zielsetzung etablieren wir gerade ein „Digital Board“, das sich aus Führungskräften mit digitalem, kommerziellen und auch anderem Hintergrund zusammensetzt. Benedetto wird auch die Leitung dieses neuen Beirats übernehmen, der im Wesentlichen für die digitale Transformation Avons verantwortlich sein wird. Der Beirat wird eng mit der Geschäftsleitung und dem Aufsichtsrat von Avon zusammenarbeiten mit dem Ziel, das Wachstum zu steigern und die Digitalisierung permanent im Mittelpunkt der gesamten Geschäftsentwicklung zu behalten.

Digitalisierung verändert alles, vom Verbraucherverhalten bis hin zum Engagement der Mitarbeiter. Welchen kulturellen Wandel erwarten Sie im Laufe der Transformation bei Avon?

Avon ist eine sehr starke Marke und wird häufig mit einem Gefühl von Wärme und Sympathie verbunden, was sie wirklich ganz besonders macht.  Aber unsere Kultur war in der Vergangenheit teilweise zu sehr nach innen gerichtet und beinhaltete Silo-Denken. Auch das befindet sich im Moment im Wandel. Wir werden ein einfacheres, schnelleres und agileres Unternehmen sein – und das beginnt mit einer neuen Denkweise, die offen dafür ist, bestehende Werte, Infrastrukturen, Partnerschaften und Allianzen zu überdenken. Die bereits eingeleitete Transformation markiert also einen Wandel weg von einem schwerfälligen und ziemlich geschlossenen Geschäft hin zu einem agilen und offenen Unternehmen. Mit anderen Worten, wir werden dieses Unternehmen nach außen hin öffnen.

Viele traditionelle Unternehmen müssen den Fokus vom Umsatz hin zum Ergebnis verlagern, was dann teilweise notwendige Zukunftsinvestitionen erschwert. Zudem sind sie im Vergleich zu Start-ups oft benachteiligt, deren Investoren viel eher bereit sind, zugunsten des Wachstums kurzfristig auf Gewinne zu verzichten. Wie lösen Sie diesen Zielkonflikt?

Ich kenne die Start-up-Methodik in- und auswendig, und sie ist in der Tat ganz entscheidend. Alles wird in zweiwöchigen Sprints gemacht, mit klaren KPIs und einem klaren PMO (‚Project Management Office‘, die Red.). So arbeiten auch wir, während wir uns zu einer schnelllebigen Beauty-Marke entwickeln. Wir investieren in kommerzielle Initiativen, digitale und IT-Infrastrukturen, und sind auf dem besten Weg, unsere Ergebnisse zu stabilisieren und unsere Ziele mit einem Umsatzwachstum im niedrigen einstelligen Prozentbereich und knapp zweistelligen Margen bis 2021 zu erreichen.

Konsumenten sind oft keine isolierten Einheiten mehr, sondern bewegen sich in selbstorganisierenden Gruppen. Die Mitglieder- und abonnementgesteuerten Geschäftsmodelle nutzen den Wunsch ‚dazuzugehören‘ –  und nehmen dabei die Weitergabe personenbezogener Daten in Kauf. Passiert das auch bei Avon?

Wir bei Avon glauben, die Geschichten unserer Kundinnen genau zu hören. Gerade die tiefgreifenden Geschichten werden uns zu unseren engsten Kundenverbindungen – und am Ende unsere größten Durchbrüche bringen. Die Verbraucher von heute sind gestresst, stark beschäftigt, mit Informationen überhäuft, und sie suchen nach Marken, die auf ihre individuellen Bedürfnisse eingehen. Die Beauty-Konsumentin von morgen will uns nicht sagen müssen, was sie von einem Produkt erwartet; sie wird erwarten, dass wir es bereits wissen. Sie wird Marken kaufen, die ihr dabei helfen, bestimmte Lebensstile und Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Sie möchte das Gefühl haben, dass Ihre Produkte nur für sie hergestellt wurden. Persönliche Beziehungen und Gespräche werden immer das Herzstück von Avon sein.

Der Aufstieg der Millennials geht mit einer deutlichen Veränderung in der Verbrauchererwartung einher. Sie fordern Transparenz und Direktheit und legen weniger Wert auf Marken. Wie versucht Avon, diese Kunden zu erreichen?

Auf dem heutigen Markt ist Authentizität alles. Das macht es für uns unerlässlich, innovativ zu sein und unser Anliegen besser zu transportieren. Wir sind stolz darauf, Millionen von Kleinunternehmerinnen weltweit zu unterstützen und sie in die Lage zu versetzen, auf ihre eigene Weise und zu ihren eigenen Bedingungen zu arbeiten. Avon ist viel mehr als ein Business – es ist eine Frauenbewegung. Angesichts des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels glauben wir, dass die Zukunft zahlreiche Möglichkeiten für Frauen bietet, und unsere ‚beauty entrepreneurs‘ tragen ihrerseits dazu bei, unseren Unternehmenszweck wiederzubeleben. Interessanterweise waren 45% der Frauen, die in den letzten zwölf Monaten zu uns gestoßen sind, unter 30 Jahre alt. Diese Verkäuferinnen an vorderster Front sind auch entscheidend verantwortlich für die neuesten Erkenntnisse, die bahnbrechenden Innovationen ja immer vorausgehen. Und wir liefern die neuesten Trends jetzt schneller als je zuvor. Für uns geht es darum, Schönheit zu demokratisieren und für jeden zugänglich zu machen, indem wir unseren Kundinnen tolle Produkte und die neuesten Trends und Technologien zu unglaublichen Konditionen anbieten. Die Premium-Hautpflege wächst sehr, sehr schnell und wird damit zu einem unserer Schwerpunkte. Asiatische Schönheit, also koreanische oder japanische Schönheit ist groß im Kommen, besonders für unsere Millennial-Zielgruppe. Wir werden uns also intensiv mit diesen Wachstumssegmenten befassen. Schönheit wird immer komplexer, aber es ist interessant, dass der manchmal unbeständige Millennial-Markt tatsächlich aus sehr loyalen Markenkonsumenten bestehen kann, insbesondere wenn eine Marke auf starken Werten beruht.

Sie sind vom Konsumgüterriesen Unilever zu Avon gekommen. Welche persönlichen Herausforderungen müssen Sie bewältigen, um in dieser „Mission (almost) impossible“ erfolgreich zu sein? Mussten Sie Ihren eigenen Stil und Modus operandi anpassen?

Ich war insgesamt 30 Jahre bei Unilever und habe in dieser Zeit in sieben verschiedenen Ländern gelebt, Zeit in vielen verschiedenen Teilen der Welt verbracht und ganz unterschiedliche Geschäftsfelder, Herausforderungen und Kulturen erlebt. Vor diesem Hintergrund sehe ich Avon als ein Unternehmen mit einem Potenzial, das kaum zu überschätzen ist. Ich mag Herausforderungen und meine Vorgehensweise war immer, das zu tun, was sich lohnt, nicht das, was einfach ist. Können wir dieses Geschäft wieder auf Vordermann bringen und es auf die nächste Ebene heben? Definitiv. Das beginnt mit einem tiefen Verständnis der grundlegenden Probleme, mit denen dieses Geschäft konfrontiert ist, sowie den wesentlichen Stärken, die es für die Zukunft zu nutzen gilt. Avon braucht einen grundlegenden Neustart, und das wird Zeit brauchen – aber wir sind auf dem besten Weg.

Herr Zijderveld, wir bedanken uns für diese Einblicke!