Droht dem Rückgrat der Wirtschaft ein Bandscheibenvorfall?

Warum das Vertrauen in Familienunternehmen brüchig wird und was jetzt vonnöten wäre, um diesen Trend umzukehren

In Deutschland schufen im vergangenen Jahr große Familienunternehmen mehr neue Arbeitsplätze als die DAX-Konzerne. Über 90 Prozent der deutschen Unternehmen sind Familienunternehmen, sie stellen 80 Prozent der Ausbildungsplätze – und deutlich über 50 Prozent der Arbeitsplätze. Familienunternehmen sind auch in vielen anderen Ländern quasi das Rückgrat der Wirtschaft, sie gelten als der Gegenentwurf zu börsennotierten Kapitalgesellschaften und werden entsprechend oft als das institutionalisierte industrielle Symbol des Vertrauens beweihräuchert. Und gerade bei den Vorzeige-Familienunternehmen stimmt ja auch: Sie stehen für langfristiges Denken statt quartalsweisem Handeln, für verantwortungsvolle Nachhaltigkeit statt für reine Profitmaximierung. Sie bieten flache Hierarchien und schnelle Entscheidungen statt undurchlässiger Gummiwände und Wegducken vor Verantwortung. Sie sind der Inbegriff von Zuverlässigkeit, Ehrbarkeit und Berechenbarkeit – im Gegensatz zu Gier, Machthunger und Skrupellosigkeit. Aber mehrere direkt aufeinanderfolgende Krisen haben ein Problem offengelegt: Mit der Realität hat dies erschreckend häufig nichts mehr zu tun, denn dem Rückgrat der Wirtschaft droht ein Bandscheibenvorfall – so manches Familienunternehmen riskiert das in sie gesetzte Vertrauen gerade zu verspielen.

Gerade die vergangenen drei Jahre haben uns eines gezeigt: In vielen Familienunternehmen scheint die besondere Balance zwischen Werten, der Haltung („Purpose“), langfristiger Zielsetzung und Berechenbarkeit sowie ethisch-professionellem Handeln der Inhaberschaft gefährdet. Drei Beispiele:

Die Führungsfalle

Schonungslos demaskieren Corona-Krise, Fachkräftemangel, der Ukraine-Krieg oder auch die Engpässe in den Lieferketten die „Schönwettermanager“ – ganz besonders auch in den Familienunternehmen. Schon Seneca sinnierte einst: „Den guten Steuermann lernt man erst im Sturm kennen.“ Diese Erfahrung machen nun auch zahlreiche Familienunternehmen. Nicht jeder Firmenlenker ist ein sturmerfahrener und im besten Sinne kampferprobter Unternehmer wie etwa Erich Sixt. Ihm gelang es nicht nur, sein Unternehmen erfolgreich am Markt zu etablieren, sondern zudem auch das Geschäft rechtzeitig und geräuschlos an seine Söhne weiterzugeben. Aufbau und Übergabeleistung, etwas, das als unternehmerisches Lebenswerk nicht allzu häufig gelingt. Denn: Zu oft führen unzureichend qualifizierte oder eingeschränkt begabte Familienmitglieder und Fremdmanager die traditionsreiche Firma an den Rand, in die Hände von Finanzinvestoren oder direkt in den Abgrund.

Die Vertrauensfalle

Mit unzureichend begabten, begrenzt erfolgreichen und dann zu häufig überforderten Unternehmensführern geht auch ein Vertrauensverlust in die Institution „Familienunternehmen“ einher. Das ist umso gefährlicher, als dass Vertrauen gerade bei familiengeführten Firmen ein kritischer Erfolgsfaktor ist. Denn: Vertrauensvolle Beziehungen zu den Mitarbeitenden, den Geschäftspartnern, den Kunden bilden die Basis des Erfolgs. Und dabei geht es auch, aber bei weitem nicht nur, um „weiche Faktoren“ wie Empathie oder Umgänglichkeit. Hohe Kompetenz, Integrität, Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit oder der sichere Blick über den Tellerrand gehören eben auch dazu. Vertrauen ist eine Beziehungskiste der besonderen Art, gleichbedeutend mit der bindenden Wirkung des Handschlags ehrbarer Kaufleute in früheren Zeiten.

Die Zukunftsfalle

Was kommt nach mir? Wer führt mein Werk fort? Viele Familienpatriarchen treibt die Angst um, dass folgendes Szenario Realität werden könnte: Die erste Generation baut das Vermögen auf, die zweite verwaltet es, die dritte verprasst es. In sehr vielen Familienunternehmen und Family Offices sind eigene, unternehmerisch-geeignete Top Talente eine Seltenheit. Und gerade diese ‚seltene Spezies‘ aus der eigenen Familie will dann oft lieber selbst gründen oder etwas anderes machen, als ins elterliche Unternehmen zu gehen. Vor allem aber beobachten wir zunehmend Mitglieder der „Next Generation“, die zwar sehr gerne die Vorteile und Annehmlichkeiten eines Gesellschafter-Status in Anspruch nehmen wollen, aber sich umgekehrt leider nicht an den Verpflichtungen und hohen Ansprüchen an diese Rolle messen lassen wollen.


„Unternehmensnachfolge“ als fundamentale Herausforderung

Im Hinblick auf die erfolgreiche Inthronisierung der Nachfolger bedarf es im Grunde vor allem zweier simpler Basis-Voraussetzungen: KÖNNEN und WOLLEN. Schon hier stehen größere Teile der Erbengeneration bereits vor einer unüberwindbaren Hürde. Weder die Eignung noch die Neigung zur Unternehmerrolle werden per Gen automatisch vererbt oder lassen sich gar der nächsten Generation einfach aufzwingen. Natürlich erleben meine Partner und ich in unserer Praxis auch beispielgebende Fälle, in denen der Generationenwechsel rechtzeitig und mit sehr hohem Verantwortungsgefühl von langer Hand geplant wird – und die Nachfolger für ihre Rolle (als Gesellschafter oder auch als Unternehmensführer) sorgfältig ausgesucht und vorbereitet werden.

Leider ist dies aber nicht die Regel. Manche rechtzeitig mögliche Nachfolge wird so lange regelrecht verschlafen oder als Herausforderung ‚ausgesessen‘, bis man irgendwann eigentlich kaum noch von einer ‚Next Generation‘ sprechen mag („Prince Charles Syndrom“). Das „nicht rechtzeitig loslassen können“ von Unternehmern wird schon seit Jahrzehnten immer wieder beobachtet und diskutiert. Aber zusätzlich gibt es eben auch zu viel Zögerlichkeit und zu wenig Mut und Zutrauen, offensichtlich talentierte und grundsätzlich interessierte Kinder, Nichten oder Neffen sehr frühzeitig einzubinden und Verantwortung und gegebenenfalls auch Gesellschaftsanteile rechtzeitig zu übertragen.

Wir werden häufiger gebeten, als objektive Beurteiler bei der Eignungsentscheidung in Nachfolgesituationen zu agieren. Allein die Tatsache, dass professionelle Unterstützung in einer solch‘ existentiellen Frage von außen geholt wird, ist oft bereits ein positives Indiz. Die Eltern von unternehmerisch denkbar ungeeigneten Kindern spüren dies zumindest intuitiv selbst – und in solchen Fällen müssen wir dann allenfalls der diplomatische Botschafter einer bedauerlichen, aber eindeutigen Nachricht sein. Umgekehrt sind herausragend talentierte, qualifizierte und auch noch interessierte Nachfolge-Kandidaten – so selten sie sein mögen – relativ leicht – und natürlich mit großer Freude zu identifizieren.

Das Problem ist hier eher die Gaus’sche Normalverteilung: Bei deutlich über der Hälfte gegebenenfalls interessierter Unternehmensnachfolger ist das Bild eben nicht ein-eindeutig. Teilweise fehlt es noch an Erfahrungs- oder Qualifikationsnachweisen, um die Eignung für unternehmerische Verantwortung beurteilen zu können. Aber häufig begegnet uns eben auch „ordentlicher Durchschnitt“ – und dann ist die große Frage, ob Mittelmaß für die Übernahme von Gesellschafterverantwortung oder gar für die Besetzung der zukünftigen Unternehmensleitung ausreicht. Man ahnt es schon – in einigen Fällen muss die Antwort schlicht „nein“ – wenigstens aber „noch nicht“ lauten.


Der Kampf um interne und externe Top-Talente

Sobald die Frage des „Wollens“ mit „nein“ zu beantworten ist – spätestens aber, wenn das „Können“ bei eigenen Nachfolgekandidaten eindeutig verneint werden muss, finden sich Familienunternehmen mitten im ‚Kampf um die Talente‘ am Markt wieder. Inzwischen – so muss man es etwas überspitzt formulieren – müssen sich die Unternehmen zunehmend bei Top Kandidaten „bewerben“ – und nicht umgekehrt. Dieser Paradigmenwechsel wurde aber in sehr vielen mittelständischen Unternehmen noch nicht nachvollzogen. Wer im Kampf um die Unternehmensführer von morgen seine Wettbewerbsvorteile und Attraktivität als weitsichtig geführtes, sich mit den globalen Anforderungen veränderndes und mit professioneller Governance unterlegtes Unternehmen nicht glaubhaft vermitteln kann – wird mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren.

Und mit ‚professioneller Governance‘ ist auch direkt die ‚Family Governance‘ angesprochen. Gar nicht so selten erleben wir, dass eine toxische Mischung aus Missmanagement und Durchschnittlichkeit verknüpft mit überheblichem Anspruchsdenken und als Sahnehäubchen womöglich noch narzisstisch-erratisches Verhalten einzelner Gesellschafter die Familienunternehmen vollständig blockiert. Für die Governance eines Familienunternehmens indiziert so eine Art von Mischung jedenfalls, dass mit ‚ordentlichem Schönwetter-Management‘ und Aussitzen nicht zu überleben sein wird. Die Gesellschafterfamilie als verantwortungsvoller, legitimer Inhaber muss vieles leisten können, mindestens aber Einfluss auf die richtige Strategie zu nehmen – und die Führung des Familienunternehmens erstklassig zu besetzen.

Immer mehr Familienunternehmen und auch Family Offices kommen bei der erfolgreichen, unternehmerischen Übergabe an eine unternehmerisch qualifizierte, zumindest aber als Inhaber legitimierte nächste Generation ins Schleudern. Was ist zu tun: Nachfolge ist ein Langstrecken-Projekt. Holen Sie als Familienunternehmer die talentiert und interessiert erscheinende NextGen sehr frühzeitig ins Boot. Halten Sie frische, quergebürstete Meinungen aus, lassen Sie sich und Ihre Führungsgremien ruhig einmal „challengen“ – und nehmen Sie ein gegebenenfalls noch vorhandenes Defizit an unternehmerischer Reife dabei großzügig in Kauf. Jede Studie zu guter Unternehmensführung weist inzwischen nach, wie wichtig Diversität in den Leitungsgremien für den Erfolg ist – und dabei geht es keineswegs nur um das Geschlecht.

Umgekehrt gilt allerdings auch: Setzen Sie hohe Maßstäbe – sowohl für die Unternehmensführung als auch für die Übernahme einer aktiven Gesellschafterrolle – dies ist kein Erbrecht. Und gestehen Sie sich und Ihrer Gesellschafterfamilie rechtzeitig ein, wenn Nachfolgekandidaten das Überspringen der bewusst hoch gelegten Messlatte vermutlich niemals schaffen werden. Seien Sie konsequent bei der Bewertung unternehmerischer Fremdleistung – und holen Sie sich nötigenfalls professionelle Hilfe ins Haus, um Fremdmanager objektiviert zu evaluieren. Gerade habe ich wieder das Argument gehört, man habe einen vollständig erfolglosen Fremdgeschäftsführer nach zwei Jahren nicht schon wieder austauschen können, denn das wäre ja einer Bankrotterklärung – dem Eingeständnis eines Fehlgriffs – gleichgekommen. Stattdessen hat man lieber weitere vier Jahre zugewartet, bis die Schwachleistung so offensichtlich wurde, dass jetzt ein harter Restrukturierungsmanager alle Hände voll zu tun haben wird.

Beim Thema Nachfolge geht es nicht zwangsläufig immer um die Nachfolge der unternehmerischen Leitung. In meiner eigenen Familie gibt es ein größeres, Jahrhunderte altes Familienunternehmen, das jetzt seit 20 Jahren zum allerersten Mal ausschließlich fremdgeführt wird. Seitdem das so gekommen ist, sind der Einfluss der Familie und damit sicher auch das ‚Familiengefühl‘ im Unternehmen zwar merklich zurückgegangen. Gleichzeitig sind aber seitdem die Wettbewerbsfähigkeit und der unternehmerische Erfolg signifikant gestiegen. Man kann also sehr wohl auch erfolgreich ein legitimer, professioneller Inhaber sein, ohne das Family Office oder Familienunternehmen selbst operativ führen zu müssen.