Digitales Onboarding in Familienunternehmen
Wie erfolgreiche Integration in der „neuen Realität“ gelingen kann
Sascha Heuser (Name geändert) ist ein Top-Manager mit mehr als 30 Jahren Berufserfahrung. Er war für mehrere multinationale Unternehmen in Führungspositionen tätig und zuletzt COO eines börsennotierten Konzerns. Mitten in der COVID-Pandemie erhielt er das Angebot, die Leitung eines Unternehmens in Familienbesitz zu übernehmen. An seinen Qualifikationen gab es keinerlei Zweifel, sein Auftreten in mehreren Videokonferenzen war überzeugend und seine Vision für die Organisation begeisterte den Familienpatriarchen. Die Verhandlungen waren erfolgreich, und Sascha Heuser übernahm schließlich die Position des CEOs. Kurze Zeit später scheiterte er jedoch kläglich. Nach nur sechs Monaten verließ er das Unternehmen wegen unüberbrückbarer Differenzen schon wieder.
Der Grund – ein misslungener digitaler Onboarding-Prozess im Familienunternehmen:
- Die Vermittlung von Information über einige wichtige Kerneigenschaften, die familiengeführte Unternehmen typischerweise besitzen, wurde vernachlässigt.
- Die vorhandenen Prozesse und Tools orientierten sich noch an der „traditionellen“ Vorstellung eines persönlichen Onboardings in Präsenzmeetings.
Welche ersten Erfahrungen eine familienexterne Führungskraft im neuen Unternehmen sammeln kann, hängt maßgeblich von seinem Onboarding-Prozess ab. Mit einer strukturierten Integration in das Familienunternehmen und geeigneten Instrumenten und Prozessen hätte das Scheitern von Sascha Heuser deshalb vermieden werden können.
Eine solche Situation ist kein Einzelfall. Das Onboarding von Führungskräften, die nicht Teil der Unternehmerfamilie sind, ist weiterhin eine zentrale Herausforderung für Familienunternehmen: Die Notwendigkeit, digital zu arbeiten, hat zusammen mit der zunehmenden globalen Volatilität die Komplexität des Eingliederungsprozesses erhöht.
Die wichtigsten Facetten von Familienunternehmen
Zusätzlich zum standardisierten Onboarding-Prozess müssen einige Besonderheiten beim Onboarding innerhalb eines Familienunternehmens beachtet werden:
- Die Familiendynamik: Der neue Top-Manager muss schnell ein umfassendes Wissen über die Geschichte, die Muster und die Werte des Unternehmens besitzen.
- Die Eigentümer- und Führungsstruktur: Die neue Führungskraft sollte darauf achten, auch ein fundiertes Bewusstsein für die Dynamik rund um die verschiedenen Eigentümer zu entwickeln.
Der familienexterne Manager muss sich dieser Besonderheiten rechtzeitig bewusst sein und sie bei seinen strategischen Entscheidungen stets im Hinterkopf behalten. Damit das gelingt, sollten die ersten Onboarding-Schritte bereits stattfinden, noch bevor die Führungskraft ihre neue Position antritt.
Die Ziele dieser Pre-Onboarding-Phase bestehen deshalb darin,
- sicherzustellen, dass der/die Topmanager/in die einzigartige Kultur, die Werte und die emotionale Dynamik der Unternehmerfamilie versteht.
- dass er/sie sich Klarheit über die Vision, die Ziele und den erwarteten Beitrag aneignet, um in der neuen Rolle wertschaffend und erfolgreich zu sein.
- einen klaren Handlungsrahmen festzulegen: Wie groß ist der Freiheitsgrad der familienexternen Führungskraft im Vergleich zum Grad der Beteiligung und Macht der Familie im Unternehmen? Welche Entscheidungen können ohne Rücksprache mit dem/den Eigentümer(n) getroffen werden?
- zu ermitteln, an welchem Punkt das Familienunternehmen auf seinem Weg zum nachhaltigen Wirtschaften steht. Ist es das Ziel des Familienunternehmens, über Generationen hinweg nachhaltig zu wirtschaften, oder will es darüber hinausgehen und ESG-Kriterien umsetzen, um eine bessere Zukunft für die Welt zu schaffen?
- dass er/sie ein Verständnis für die einzigartigen ungeschriebenen Regeln des Familienunternehmens erreicht: Wenn der Firmenpatriarch zum Beispiel immer in einem alten Volvo zur Arbeit kommt, macht es keinen guten Eindruck, wenn der neue CEO an seinem ersten Tag in einem Porsche vorfährt.
Die neuen Regeln des Online-Onboarding und wie man sich die technischen Möglichkeiten zunutze macht
Die Pandemie hat für einen grundlegenden Wandel in der Arbeitswelt gesorgt; das Onboarding muss deshalb in vielen Fällen online erfolgen. Wie nachhaltig diese Änderungen sein werden, lässt sich noch nicht absehen. Eines ist jedoch sicher: Digitales Onboarding ist zur neuen Realität geworden. Familienunternehmen müssen sich dementsprechend anpassen, um für Führungskräfte attraktiv zu bleiben.
Deshalb ist es unabdingbar, die Herausforderungen und Chancen, die das digitale Onboarding bietet, zu verstehen:
- Nachteile: Informelle Gespräche wie beispielsweise an der Kaffeemaschine, die beim Aufbau von Beziehungen zwischen Arbeitskräften helfen, sind verschwunden; die spontanen Gelegenheiten, die einen Austausch und ein Lernen auf den Fluren ermöglichen, ergeben sich nicht mehr. In virtuellen Umgebungen kann man die Körpersprache des anderen nicht genau erfassen und auch die Gesprächsatmosphäre nicht erspüren. Für Neuankömmlinge wird es länger dauern und schwieriger sein, eine Beziehung aufzubauen, wenn man nur online mit Menschen in Kontakt treten kann, die man noch nie zuvor getroffen hat.
- Vorteile: Menschen können zur selben Zeit schnell und von unterschiedlichen Standorten aus zusammengebracht werden. Es ist einfacher, ein breiteres Publikum zu erreichen sowie eine Beziehung zu diesem aufzubauen und somit eine kontinuierliche Kommunikation aufrechtzuerhalten. So lassen sich in erheblicher Weise Zeit, Energie und Kosten sparen, die für anderweitige Zwecke eingesetzt werden können: Man gewinnt „Quality Time“ zum Nachdenken und Reflektieren.
Das digitale Onboarding erfordert noch mehr Planung und Proaktivität als das traditionelle Onboarding. Wie aber kann der familienexterne Top-Manager Vertrauen aufbauen, die Familie, die Eigentümer und die Mitarbeiter einbinden, wenn er sie nicht persönlich treffen kann?
Idealerweise sollte das Familienoberhaupt oder ein Vertreter der Familie, alternativ auch der Beiratsvorsitzende, einen Willkommensgruß für den neuen Geschäftsführer in Form einer Videobotschaft für alle Mitarbeiter formulieren, die deutlich macht, dass der zukünftige CEO das Vertrauen und die Unterstützung der Familie genießt.
Der familienfremde CEO wiederum könnte
- sein Publikum segmentieren, die wichtigsten Stakeholder im Unternehmen und in der Familie identifizieren, mit denen er in Kontakt treten muss, und die folgenden Fragen für sich beantworten: Zu wem sollte er eine persönliche Beziehung aufbauen? Wen kann er/sie als Gruppe ansprechen?
- die Kommunikationshäufigkeit von Fall zu Fall anpassen: Mit wem sollte er/sie ein vierteljährliches, monatliches, wöchentliches oder tägliches Online-Meeting abhalten?
- das Format je nach Zielgruppe und Zielsetzung anpassen: ein virtuelles Rathaus mit allen Mitarbeitern, häufige Videokonferenzen mit dem Vorsitzenden des Bei-/Aufsichtsrats oder demjenigen, der die Familie vertritt, Online-Workshops für Projekte, E-Learning-Programme für bestimmte Themen oder ein virtueller Morgenkaffee für alle direkten Mitarbeiter.
- Sich darum bemühen, informelle Kaffeekränzchen und spontane Lernmomente in die Tagesordnungen der Sitzungen zu integrieren.
- einen gut strukturierten und transparenten Prozess vorgeben.
- einen digital versierten Koordinator mit der Einrichtung und Organisation all dieser Online-Interaktionen beauftragen.
Was bedeutet das für die Identifikation der besten Talente für und deren Bindung an das Familienunternehmen?
- Familienunternehmen sollten sich mit der „neuen Realität“ weiterentwickeln, indem sie ihre Denkweise anpassen und ihre Führungs- und Geschäftsmodelle modernisieren, um für Spitzenkräfte attraktiv zu bleiben.
- Executive-Search-Unternehmen sollten Kandidaten identifizieren, die dieselben Werte wie die Unternehmerfamilie teilen und über die nötige Flexibilität und das Potenzial verfügen, um
- sich an die einzigartige Situation des Familienunternehmens anzupassen;
- virtuelles Vertrauen mit allen wichtigen Stakeholdern auf einer Eins-zu-Eins-Basis und auch in einem breiteren Publikum aufzubauen;
- das volle Potenzial der Online- und persönlichen Interaktion zu nutzen, um das Unternehmen auf die nächste Stufe zu heben.
Das Onboarding eines Familienunternehmens hat seine ganz eigenen Besonderheiten, und die Online-Interaktion ersetzt nicht den persönlichen Kontakt – idealerweise sollte man daher das Beste aus beiden Welten miteinander kombinieren.
Hätte man im Fall von Sascha Heuser die Schlüsselmerkmale des Familienunternehmens mit einem im Voraus geplanten Online-Integrationsprogramm verknüpft, das die neuen digitalen Tools nutzt, hätte Sascha Heuser eine viel bessere Chance gehabt, als neue Führungskraft des Unternehmens erfolgreich zu sein.