Ein bisschen mehr als nur Bauchgefühl…

Kompetenzbasierte Einschätzung und Beurteilung von Nachfolgern und Führungskräften

von Andreas von Specht

Viele Entscheider gehen mit ihrer langjährigen Erfahrung, einer ordentlichen Portion gesundem Menschenverstand und einem ausgeprägten Bauchgefühl in wichtige Personalgespräche. Allerdings sind rein intuitive Beurteilungen häufig stark verzerrt und der Beurteiler droht in gleich mehrere Fallen hineinzutappen.Ein mittelständischer Unternehmer saß uns gegenüber und war einigermaßen ratlos. Fast drei Stunden habe er neulich wieder mit einem Kandidaten für die Leitung seines Hauptwerkes verbracht. Es sei ein sehr nettes, angenehmes Gespräch gewesen – und der Mann habe durchgehend einen grundsoliden und auch dynamischen Eindruck hinterlassen. Der Unternehmer habe das Gespräch dann schließlich beendet und sich gedacht: „Im Grunde bin ich doch jetzt genauso schlau wie vorher. Ist das wirklich der Mann, dem ich die zweitwichtigste Funktion in meinem Unternehmen anvertrauen möchte? Woran genau soll ich eigentlich festmachen, ob er das wirklich kann, oder ob er nur ein gut geübter Bewerber ist?“ Nett und umgänglich war der Kandidat ja – aber er wisse natürlich selbst, dass das alleine nicht reicht. Was aber sind dann die objektivierten Kriterien, nach denen er eine herausragende Führungskraft beurteilen sollte? Welche zentralen Fragen müsste er im nächsten Gespräch noch stellen, um zu einer tiefergehenden Beurteilung zu gelangen? Und woran erkenne er eigentlich, ob der Kandidat zusätzlich auch das Potenzial habe, eines Tages vielleicht sogar sein eigener Nachfolger als Chef des ganzen Unternehmens zu werden?

Diese Fragen begegnen uns häufiger. In ehrlichen Momenten werden sie auch so offen gestellt – und manchmal merkt man eher intuitiv, dass sie selbst erfahrene Unternehmensführer stark beschäftigen. Gerade auch Unternehmer, die zwar häufig interne Personalentscheidungen treffen, aber relativ selten Führungskräfte am Markt rekrutieren.

Sehr viele Entscheider gehen mit ihrer langjährigen Erfahrung, einer ordentlichen Portion gesundem Menschenverstand und einem ausgeprägten Bauchgefühl in solche Gespräche. Das ist auch gut und richtig so, schließlich muss ja u.a. auch herausgefunden werden, ob bspw. ein Nachfolgekandidat in das besondere kulturelle Geflecht des eigenen Unternehmens hineinpasst. Allerdings sind rein intuitive Beurteilungen häufig stark verzerrt und der Beurteiler droht in gleich mehrere Fallen hineinzutappen. Beispielhaft seien an dieser Stelle nur ein paar wenige Wahrnehmungsverzerrungen erwähnt: Der sogenannte „Halo-Effekt“ beschreibt, wie die Beurteilung eines Kandidaten auf Basis eines sehr positiven Eindrucks in einer spezifischen Situation im Anschluss verallgemeinert wird. Das Ganze funktioniert auch genau umgekehrt, wenn ein kritischer Ersteindruck die gesamte Beurteilung nach unten zieht („Horn-Effekt“). Oder es kommt im Kopf des Beurteilers zu einem „Hierarchie-Effekt“, bei dem hierarchisch höher angesiedelte Kandidaten quasi automatisch besser beurteilt werden – nach dem Motto: „Einmal Vorstand, immer Vorstand.“ Sehr viele Beurteiler lassen sich auch gerne vom allerersten Eindruck leiten, der dann die gesamte Beurteilung überdeckt. Die Liste möglicher Wahrnehmungsverzerrungen ist noch sehr viel länger. Man stelle sich einen Aspiranten für eine Partnerposition in einer konservativen Privatbank vor, der mit weißen Tennissocken unter der zu kurzen Anzugshose den Raum betritt. Kommt ein Beurteiler über diese optische Erstwahrnehmung später im Gespräch wohl noch hinweg?

Beurteilungen sind also außerordentlich fehleranfällig. Insofern lautet auch eine erste Empfehlung, sich bei sehr wichtigen Einschätzungen von anderen Menschen ausreichend Zeit zu nehmen. Es passiert häufig, dass Entscheider eigentlich schon nach zehn Minuten zu wissen glauben, dass eine Führungskraft „leider nicht passt“. Noch erstaunlicher aber ist die vermeintliche Befähigung, nach einer halben Stunde Gespräch bereits sicher zu sein: „Jawohl, das passt!“. Wir, als auf die Einschätzung und Beurteilung von Führungskräften und Unternehmer-Nachfolgern spezialisierte Berater, können das jedenfalls nicht.

Wir empfehlen unseren Klienten gerne, die Messlatte für die angestrebte „Passform“ möglichst hoch zu legen. Das bedeutet keineswegs nun möglichst nach der berühmten Nadel im Heuhaufen oder der „eierlegenden Wollmichsau“ zu fahnden. Aber ein Entscheider sollte sich sowohl bei der Leistungsbewertung des eigenen Führungspersonals, als auch bei der externen Rekrutierung schon vorher klarmachen, nach welchen Kriterien er später beurteilen möchte. Als wir einen Hamburger Rohstoffhändler einmal fragten, was denn für ihn die wichtigsten Kriterien für die externe Suche nach seinem Nachfolger seien, sagte er uns: „Der muss natürlich schon ein bisschen was herzeigen können – aber vor allem soll er möglichst nicht stehlen.“ Aus unserer Sicht geht das durchaus noch etwas differenzierter. Vor allem brauchen Beurteiler Methoden, die die vorher aufgezeigte Fehleranfälligkeit reduzieren. Kompetenzbasierte Interviews sind eine solche Methode, und zwar unserer Überzeugung nach die beste, die in den letzten 20 Jahren entwickelt wurde.

Kompetenzen sind für den geschulten Beurteiler zuverlässig messbar und stellen einen guten Indikator gegenwärtiger und zukünftiger Arbeitsleistung dar. Es gibt Unternehmen, die sehr komplexe Kompetenzmodelle mit 30 oder 50 Einzelkompetenzen entwickelt haben. Tatsächlich kann man aber bereits mit etwa 8-10 Kernkompetenzen seniore Führungskräfte sehr genau erfassen und beurteilen. Diese Kernkompetenzen können zusammenfassend in Unternehmer- und Sozialkompetenzen unterteilt werden.

Es gibt kaum einen Auswahlprozess für eine Unternehmer-Nachfolge, bei dem der Anspruch an Kandidaten, vor allem sehr „unternehmerisch“ zu sein, nicht ausdrücklich formuliert wird. Aber was heißt das eigentlich genau? Wann ist jemand unternehmerisch? Und wann eher nicht? Die wichtigsten Unternehmerkompetenzen sind sicherlich konsequente Ergebnisorientierung, strategisches Denken und Veränderungsmanagement, wozu auch die Fähigkeit gehört, vertretbare Risiken einzugehen. Natürlich braucht es auch Fachkompetenz und Marktkenntnisse, aber ohne hohe Ausprägungen bei den drei erstgenannten Kernkompetenzen kommt ein Unternehmer sicher nicht aus. Wenn das die „harte Seite“ der Medaille ist, müssen zusätzlich Sozialkompetenzen untersucht werden, also die vermeintlich „weiche Seite“. Wichtige Sozialkompetenzen sind insbesondere Führungsbefähigung, Mitarbeiterentwicklung und Teamorientierung, aber beispielsweise auch das wichtige Thema Kundenorientierung. Und stellen Sie sich einmal einen global in vielen Märkten agierenden Manager vor, der leider aber interkulturell nicht „geländegängig“ ist – und bspw. in Asien „wie ein deutscher Panzer“ alles platt walzt. Da wird dann strategische Weitsicht oder die Befähigung zur Veränderung schnell neutralisiert.

Bei der endgültigen Auswahl, vor allem aber der Gewichtung der Einzelkompetenzen, kommt es auch auf die spezifische Unternehmenssituation und die Position an. Die Kompetenzen werden in ihrer Einschätzung nicht absolut eingestuft („die ist ergebnisorientiert; der ist es nicht“), sondern skaliert. Jede einzelne Kompetenz kann in unterschiedliche „Aktivierungsstufen“ aufgeteilt werden. Ist eine Kompetenz nicht besonders stark ausgeprägt (d.h. die Ausprägung liegt im unteren Bereich), verhält sich eine Führungskraft eher reaktiv. Dann kommen bei der Einschätzung häufiger Begriffe vor wie „er versteht“, „er versucht“ oder „er bemüht sich, Fehler zu vermeiden“. Führungskräfte, die sehr hohe Ausprägungen bei einer Kompetenz zeigen, sind in diesem Bereich „pro-aktiv“. Dann wird nicht nur „verstanden“ und auch nicht mehr nur „angewendet“, sondern „entwickelt“. Nicht nur „versucht“, auch nicht mehr nur tatsächlich „erreicht“, sondern „übertroffen“. Manager mit derart hohen Kompetenzausprägungen können meistens auch begeistern, mitreißen und andere zu Höchstleistungen bewegen. Bei einem kompetenzbasierten Interview wird Verhalten in der Vergangenheit untersucht, um einen Indikator für zukünftiges Verhalten zu erhalten. Dabei spielt weniger das „Was“ eine entscheidende Rolle, als das „Wie“. Also nicht nur das „Was haben Sie gemacht?“ hinterfragt, sondern möglichst tiefergehend in Richtung „Wie sind Sie vorgegangen?“, „Wie haben Sie das Ergebnis erzielt?“ oder „Wie genau sah das Ergebnis aus?“.

Am Ende einer kompetenzbasierten Einschätzung sollte ergänzend ein umfassender Referenzprozess stehen. Es kann wohl niemand so authentisch über das Teamverhalten eines Kandidaten Auskunft geben, wie frühere Team-Mitglieder; oder einschätzen, wie sich direkte Führung anfühlte, wie ehemalige Mitarbeiter. Vor allem aber sollten frühere Vorgesetzte oder Beiratsvorsitzende zu Wort kommen, wenn es um die Frage geht, ob ein Kandidat bspw. ein Tochterunternehmen wirklich nachhaltig entwickelt hat. Aber Vorsicht: Auch das Einholen von Referenzen will geübt sein. 90% aller Referenzgeber, so sagen Erhebungen, nehmen sich vor einem Referenzgespräch vor, eine tendenziell positive Einschätzung abgeben zu wollen.

Kann also dem mittelständischen Unternehmer, der sich bei der Einschätzung seines potentiellen Nachfolgers so schwer tut, doch geholfen werden? Wir glauben schon. Wie in anderen Lebenssituationen kommt es auf eine gute Mischung an: Ein handwerklich sauberer, kompetenzbasierter Interviewprozess, abgesichert durch umfassende Referenzaussagen – und am Ende ruhig auch etwas Intuition und Bauchgefühl.