Agile: Wenn die Squad das Sagen hat

Kernideen und Praxisbeispiele agilen Managements

von Dr. Christian Bühring-Uhle

Agiles Management bzw. „Agile“ hat sich in den letzten Jahren zweifelsohne zu einem Modebegriff entwickelt, auch wenn es kein allgemein akzeptiertes Verständnis davon gibt, was „agile“ eigentlich genau bedeutet. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Software-Entwicklung, wo er oftmals auch gleichgesetzt wird mit „Scrum“, einem ursprünglich aus dem Rugby stammenden Begriff, der ein in kleinen Schritten vorankommendes, immer wieder auch von kleineren Rückschritten unterbrochenes, Voranschreiten bezeichnet. In der Software-Entwicklung besteht „agiles“ Vorgehen darin, eine komplexe Entwicklungsaufgabe in eine Vielzahl von Einzelaufgaben herunterzubrechen und diese Aufgaben parallel arbeitenden, relativ autonom und eigenverantwortlich agierenden kleinen Teams anzuvertrauen, die eine Teilaufgabe „von A bis Z“ bewältigen. Dies Teams werden oft „Squads“ genannt und von einem „Product Owner“ geführt. Statt in einer eng koordinierten und überwachten, klassischen, hierarchischen Struktur den „großen Wurf“ zu versuchen, lässt man den Teams die Freiheit in „Sprints“ vorzugehen, d.h. in schneller Folge Teillösungen auszuprobieren, aus den Erfahrungen zu lernen und neue, verbesserte Teillösungen zu entwickeln. Ebenso wird versucht ein Maximum an Feedback zu erhalten sowie den Blick systematisch auf die Nutzer zu richten.

Quer über die Squads legen sich, wie in einer Matrix, die „Chapters“: hier tauschen sich Kollegen derselben Fachrichtung bspw. über neue fachliche Trends aus. Die Möglichkeit autonom zu handeln stimuliert Handlungsorientierung und Kreativität – und daraus resultieren schnellere und pragmatischere Entscheidungen. Interdependenzen zwischen den Teilprojekten werden in häufigen, kurzen Abstimmungsrunden zwischen den Teams geklärt. Prozesse werden schneller und Komfortzonen aufgehoben (was nicht allen Mitarbeitern auf Anhieb gefällt). Wenn eine Teilaufgabe erledigt ist, wird das Team aufgelöst und die Mitglieder in neue, für die nächste Teilaufgabe spezifisch zusammengesetzte Teams verteilt.

Dieses iterative Vorgehen, das bewusst auf ein durchgeplantes Vorgehen verzichtet und Raum dafür lässt, aus Fehlern und Rückschritten zu lernen, mag auf den ersten Blick ineffizient anmuten. Es hat sich jedoch in gewissen Szenarien durch die höhere Flexibilität als sehr effektiv und am Ende auch effizient erwiesen, da vermieden wird, über längere Zeit und mit hohem Ressourceneinsatz in eine Richtung zu laufen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellt. Ein weiterer Vorteil ist das interdisziplinäre Arbeiten, da Entwickler, Designer und Programmierer unmittelbar im Team zusammenarbeiten und das zu lösende Problem von verschiedenen Blickwinkeln angehen. Die erhöhte Autonomie der Teams ermöglicht eine Selbstorganisation sowie die Orientierung an sachlichen anstelle von hierarchischen Gesichtspunkten. Alle lernen voneinander und an der Aufgabe.

Auch fernab der agilen Praktiken in der Software-Entwicklung versuchen Unternehmen unterschiedlichster Größe, Historie und Branche nun auf den Zug aufzuspringen und „agil“ zu werden. Das gelingt nicht immer, denn den Vorteilen stehen natürlich auch Herausforderungen gegenüber. Neben Verantwortlichkeiten und Organisationsmodellen betrifft das vor allem auch das Thema Führung. Aber wie genau muss sich die Führung ändern – oder auch nicht – wenn ein Unternehmen als „agile“ Organisation funktionieren soll?

Agilität erfordert in aller erster Linie (Selbst-) Disziplin, Motivation und Zusammenhalt. In vielen Firmen werden Ideen gemeinsam, kontinuierlich und spontan entwickelt – und auf ewige Meetings und „PowerPoint-Schlachten“ verzichtet. Das kann gut funktionieren, aber nur mit einem sehr hohen Maß an Disziplin. Der Zusammenhang mag nun zunächst überraschend wirken: das Mehr an Freiheit und Flexibilität wird „erkauft“ (denn es ist bedingt) durch ein Mehr an Disziplin. Sonst droht das Chaos. Entsprechend muss sich auch die Rolle des Managers ändern, der künftig weniger mit Kontrolle und Delegation arbeiten – und vielmehr eine „transformationale Führungsrolle“ einnehmen sollte (oder, in den Worten von Pascal Houdayer, sich als „Social Architect“ versteht – siehe nachfolgendes Interview). Diese von Robert Greenleaf begründete Philosophie des „Servant-Leadership“ ist durch eine Art Mentoring-Funktion gekennzeichnet: Der Manager als Vorbildfunktion, der Mitarbeiter coacht, Verantwortung übergibt, Selbständigkeit und Weiterentwicklung fördert und, nicht zuletzt, auch den Sinn der Arbeit verdeutlicht.

Natürlich muss im Rahmen von agilen Initiativen oder Transformationen auch zwischen Historien und Stadien eines Unternehmens unterschieden werden. Der schwedische Musik-Streaming-Dienst Spotify ist bspw. ein „agile native“, sprich seit Gründung immer schon agil organisiert. Und ein sehr gern zitiertes Erfolgsbeispiel mit inzwischen 4.000 Mitarbeitern, 217 Mio. Nutzern (davon 100 Mio. zahlenden Abonnenten), EUR 5,5 Mrd. Umsatz und EUR 22 Mrd. Börsenwert. Von Anfang an in „Squads“ und „Tribes“ organisiert und von einem jungen, aber sehr disziplinierten Top-Management orchestriert, hat Spotify den Übergang vom hippen Startup zum börsennotierten Großunternehmen gemeistert, ohne an Beweglichkeit und Effizienz einzubüßen.

Ein Beispiel für ein Unternehmen, welches einst klassisch-hierarchisch organisiert und später eine agile Transformation angestoßen hat, ist Freitag, ein mittelständischer Hersteller von Tragetaschen aus rezyklierten LKW-Planen. Das Züricher Unternehmen, von den Designern Markus und Daniel Freitag 1993 gegründet und noch heute im Besitz der beiden Brüder, hatte sich vom Startup zu einem klassisch organisierten, „stratifizierten“ Unternehmen mit über 200 Mitarbeitern in der Zentrale und diversen Produktionsstäten im Ausland entwickelt. Mit dem Wachstum kam die Führungskrise, man wechselte mehrfach den CEO, die Brüder fühlten sich nicht mehr „zu Hause“ und beschlossen einen radikalen Wechsel. Mit Hilfe externer Berater wurde eine „Holokratie“ etabliert und in einer „Verfassung“ dokumentiert. Man schaffte die Position des CEO und dann auch gleich die gesamte Top-Management-Ebene ab. Die Gründer/Inhaber sitzen heute nicht mehr im obersten Stockwerk – die Chefetage wurde abgeschafft – sondern wieder „mittendrin“. Doch wie genau organisiert sich das Unternehmen und wie gestaltet sich die Zusammenarbeit? An die Stelle von klassischen Hierarchieebenen und Abteilungsstrukturen traten „Kreise“, die sich ohne „Chef“ selbst organisieren. Statt einer Marketingabteilung gibt es bspw. einen Kreis „Commercial“. Wer im Unternehmen mit Vermarktung zu tun hat, übernimmt eine konkrete Rolle in diesem Kreis, mit klar definierten Projekten und Verantwortlichkeiten. Diese werden nicht von oben vorgegeben, sondern im Kreis, im zweiwöchigen „Governance Meeting“ gemeinsam beschlossen und bei Bedarf angepasst. Betrifft ein Thema nur einen Teil des Kreises, wird ein Sub-Kreis gebildet, z.B. für „virales Marketing“. Auch dieser agiert autonom, d.h. der Ober-Kreis kann dem Sub-Kreis gegenüber Anregungen formulieren, aber keine Anweisungen geben. Das Tagesgeschäft wird im wöchentlichen „Tactical Meeting“ in einem streng definierten und von einem Moderator durchgesetzten Ablauf besprochen. (Nur) wer einen Punkt auf die Agenda gesetzt hat oder durch seine Rolle betroffen ist, nimmt teil. In einer Check-in-Runde berichtet jeder kurz, wo sein Projekt steht, und der Erledigungsgrad wird in einer Checkliste durch den Moderator dokumentiert, der auch hilft Fragen und etwaige Differenzen zu klären. Es dürfen Fragen gestellt werden, aber langwierige Diskussionen sind im Tactical Meeting ausgeschlossen. Über Kurskorrekturen oder Modifikationen in den Einzelprojekten entscheidet das mit der jeweiligen Rolle betraute Mitglied des Kreises autonom. Handlungsorientierung und Beweglichkeit gehen vor Konsens und Perfektion. Fehler werden in Kauf genommen und autonom korrigiert. Das Tactical Meeting dauert rund eine Stunde, die Ergebnisse werden unmittelbar dokumentiert und allen Betroffenen online zur Verfügung gestellt. Überhaupt ist Transparenz zentral. Alle Mitarbeiter haben Zugang zu praktisch allen Zahlen im Unternehmen. Die Erfahrung scheint dem Recht zu geben – es wird berichtet, dass das autonome Arbeiten zu einem erhöhten Grad an Gewissenhaftigkeit führt. Dieser Zustand kam allerdings nicht über Nacht durch Anordnung der Inhaber, sondern wurde in einem allmählichen Prozess unter Einbindung aller Mitarbeiter im Unternehmen verankert und hat auch noch nicht alle Bereiche erfasst. Insbesondere in der stark fehleranfälligen Produktion befindet man sich noch in einem Übergangsstadium.

Nun könnte man sagen, dass das von Anfang an agile Spotify und das vergleichsweise junge und kleine Unternehmen Freitag, welches schon immer eine eher unkonventionelle Kultur besaß, nicht stellvertretend für alle anderen, v.a. auch größeren Unternehmen stehen können. Und damit die berechtigte Frage: Wie gestaltet sich die Einführung eines agilen Systems in einem „traditionellen Großunternehmen“? Ein vielzitiertes Beispiel für die Transformation eines solchen Unternehmens ist der internationale Versicherungskonzern ING. Hier wurden agile Management-Methoden flächendeckend eingeführt, um das Unternehmen an die Digitalisierung mit ihren wandelnden (und steigenden!) Konsumentenanforderungen und die damit einhergehende permanent steigende Wettbewerbsintensität anzupassen. In einer groß angelegten „Komplett-Transformation“ wurden die Teams verkleinert und die Organisation flexibilisiert. Jeder Mitarbeiter musste sich offiziell um eine Aufgabe/Rolle/Stelle in der neuen Organisation bewerben. Rund 30% der Führungskräfte hatten Probleme sich in die neue Struktur einzufinden – und verließen das Unternehmen. Im Rahmen der Transformation wurde das Unternehmen in „Squads“ aufgeteilt. Manager waren fortan nicht mehr für bestimmte Organisationseinheiten und die Erreichung vorgegebener Ziele verantwortlich, sondern mussten im Rahmen des neuen agilen Führungsmodells „Squads“ motivieren und ihnen helfen sich konsequent auf die Befriedigung von Kundenbedürfnissen auszurichten sowie daraus selbst die übergreifenden Ziele und Prioritäten abzuleiten.

Auch der Pharmakonzern Novartis mit seinen 100.000 Mitarbeitern hat sich agilem Arbeiten verschrieben, um Eigenverantwortung und Innovation zu fördern und damit die Anpassungsfähigkeit und Leistung zu erhöhen. So hat der neue Konzernchef Vas Narasimhan bei seinem Antritt im Februar 2018 das „Unboss“-Konzept propagiert. Damit sollen aber nicht die Chefs abgeschafft, sondern ein Umdenken eingeleitet werden und das Verhalten der Vorstände, Generaldirektoren (immerhin 360 Personen!) und der 15.000 mittleren Führungskräfte geändert werden. Sie alle werden einer „Unbossed Leadership Experience“ unterzogen, mit Trainings, 360° Feedbacks und persönlichem Coaching. 60.000 Mitarbeiter haben ihre Chefs beurteilt und die Wechselbereitschaft vs. Immunität dagegen werden anhand eigens entwickelter Kennzahlen nachgehalten.

Natürlich gibt es auch einige Beispiele, die zeigen, dass der Weg in die Agilität steinig sein kann und nicht immer gelingt. Die lässt sich am Beispiel von Zappos, einem Online-Schuhhändler aus den USA, gut aufzeigen, der sich im Rahmen der agilen Transformation durchaus schwertat. 2013 wurden alle Chefposten abgeschafft mit dem Ziel, dass sich die Mitarbeiter in einem stringenten „bottom-up“-Modell radikal auf den Endkunden fokussieren und sich durch die Bank selbst organisieren sollten. Dies endete jedoch zunächst recht schnell im Chaos, da sich niemand wirklich verantwortlich fühlte, Prozesse ins Stocken gerieten und zudem die Mitarbeiterzufriedenheit im Eiltempo sank. Die tiefgreifende Veränderung einer agilen Organisation war zu abrupt eingeführt worden, die resultierende Erschütterung in den Abläufen wurde unterschätzt. Letztendlich hat sich Zappos erholen können und gilt inzwischen als Pionier und Vorbild für eine Kultur der Konsumenten-„Obsession“. Mit der Gründung eines Beratungszweigs begleitet Zappos andere Konsumgüterunternehmen auf dem Weg in die „Holocracy“.

Agiles Arbeiten passt nicht zu jedem Unternehmen bzw. zu jeder Unternehmensfunktion, aber in Zeiten sich permanent beschleunigenden Wandels kommt kein Unternehmen daran vorbei sich damit auseinander zu setzen. Wo agiles Arbeiten Sinn macht und was man bei der Einführung beachten soll, beleuchtet Felix Waldeier in unserem zweiten Artikel. Eine sehr persönliche Perspektive zu agilen Management-Techniken erfahren wir in dem sich anschließenden Interview mit Pascal Houdayer, der innovative Führungspraktiken in ganz unterschiedlichen Unternehmen vorangetrieben hat.