Der CEO als Social Architect

Ein Interview mit Pascal Houdayer, Geschäftsführer von NAOS

von Carolyn Lutz und Nick Harris

Pascal Houdayer begann seine Karriere bei Procter & Gamble und übernahm im Laufe von 18 Jahren zunehmend größere Marketing- und Managementpositionen. 2011 wechselte er zu Henkel und war über sechs Jahre, zuletzt als EVP Beauty Care & Mitglied des Executive Committee, für die Gruppe tätig. Seit 2018 ist er CEO von NAOS, einem weltweit tätigen Familienunternehmen, das von Jean-Noël Thorel gegründet wurde und unter den Marken Bioderma, Institut Esthederm und Etat Pur hochinnovative Haut- und Körperpflegeprodukte entwickelt.

AvS – International Trusted Advisors: Herr Houdayer, Sie haben für drei sehr unterschiedliche Unternehmen gearbeitet – das US-notierte, multinationale Konsumgüterunternehmen P&G, das etablierte deutsche Familienunternehmen Henkel und nun das französischen Unternehmen NAOS, welches sich in der ersten Generation befindet. Wie würden Sie die Unterschiede im Hinblick auf den Führungsstil in diesen Unternehmen charakterisieren?

Pascal Houdayer: P&G ist sehr strukturiert, legt Wert auf IQ, und Innovation erfolgt aufgrund der hohen Konsumentenorientierung „bottom-up“. Henkel ist ein Familienunternehmen, ebenfalls sehr strukturiert; es gibt eine klare Delegation von Kompetenzen und strategische Planung erfolgt eher „top-down“. NAOS wiederum ist sehr unternehmerisch und die Organisation gibt dem Einzelnen viel Freiheit zur persönlichen Entfaltung. Die Art und Weise, wie wir Themen und Aufgaben angehen, ist wichtiger als das, was wir tun. Und: Entscheidungen, die wir treffen, werden sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Herzen getroffen.

Etablierte Marken verlieren sukzessiv Anteile an wendigere Start-ups. Ist die Größe einer Gruppe, wie bspw. P&G, ein Nachteil bzw. ein Hindernis für Wachstum und Innovation?

Größe hat immer noch einige Vorteile: Man kann mehr in Innovation investieren, es erleichtert die globale Ausweitung der Geschäftstätigkeit und man kann in größerem Umfang Variationen finden und ausprobieren. Gleichzeitig birgt Größe auch Gefahr und klare Nachteile, u.a. in Bezug auf Agilität und Geschwindigkeit, wie wir heute am Beispiel vieler kleinerer und wendiger, digitaler Geschäftsmodelle sehen, in denen deutlich schneller entschieden und gehandelt wird. Schnellere Entscheidungsprozesse fußen auf der Grundlage, dass es in diesen Unternehmen nicht nötig ist, zunächst in der Befehlskette nach oben zu navigieren, bspw. von der lokalen zur regionalen Ebene und weiter zur Konzernzentrale – und dann wieder zurück nach unten. Ich habe erlebt, dass das P&L-Management in großen Unternehmen sehr komplex sein kann und die Gefahr besteht im Rahmen von Matrixstrukturen den eigenen Zugriff zu verlieren.

Wie hat sich Ihr eigener Führungsstil entwickelt? Was war die größte Veränderung, die Sie vornehmen mussten, und wodurch wurde diese ausgelöst?

Die größte Veränderung in meinem Führungsstil war der Wechsel von IQ zu EQ – und dann von EQ zu AQ. Zunächst lag mein Schwerpunkt klar auf IQ, da die P&G-Schule Wert auf die Förderung von analytischem und strategischem Denken legt. In einem ersten Entwicklungsschritt habe ich dann sukzessive auch EQ (Emotionale Intelligenz) in meine Führungsstilistik einfließen lassen, in dem ich stärker auf Emotionen und Empathie setzte, die notwendig sind, um größere Teams zu leiten. Später stellte ich jedoch fest, dass in der heutigen „VUCA-Welt“ („Volatile, Uncertain, Complex and Ambiguous“) IQ und EQ allein nicht mehr ausreichen. Vielmehr benötigt man nun einen hohen AQ („Adaptability Quotient“): dieser bemisst die Fähigkeit des ständigen Lernens, der Aufnahme von Signalen von Verbrauchern, Händlern sowie neuen Erkenntnissen und aktuellen Trends – und wie gut es einem gelingt sich diesen anzupassen. Wie wichtig der AQ ist, merkte ich zum ersten Mal anlässlich einer Reise nach Palo Alto und meinem Besuch bei verschiedenen Start-Ups. Es waren nicht immer die klügsten Unternehmer, die am erfolgreichsten waren, sondern diejenigen, die sich erfolgreich anpassen konnten und schnell waren. Die Welt ist mittlerweile ein Dorf, neue Ideen kommen von überall her und somit gibt es auch nicht nur das eine Erfolgsrezept. Wir müssen daher unseren Horizont für lebenslanges Lernen öffnen und versuchen zu antizipieren, was als nächstes kommt.

„Agile Leadership“ kann für verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge bedeuten. Was bedeutet der Begriff für Sie?

Für mich bedeutet „Agile Leadership“, keine mentalen Muster oder vorgefasste Ideen zu haben, wie etwas sein sollte. Eine agile und offene Sichtweise der Dinge zu haben; zu erkennen, was man nicht weiß; akzeptieren, dass man ständig lernen und sich an Veränderungen anpassen muss – oder diese im Idealfall sogar selbst leiten!

Welche Rolle sollte der CEO im Hinblick auf „Agile Leadership“ spielen? Muss der CEO weiterhin als Anführer fungieren oder eher „loslassen“ und Verantwortung übertragen?

Der CEO muss ein Vorbild sein und Agilität in der Praxis zeigen – nicht nur in der Sprache. Die Rolle eines CEO ist nicht mehr die eines typischen „Chefs“: Ich verstehe mich vielmehr als „Social Architect“, der sich auf die Pflege der Kultur, der Umwelt, der Menschen und der Organisationsgestaltung konzentriert, damit wir gemeinsam die Zukunft des Unternehmens gestalten können. Dies unterscheidet sich sehr vom traditionellen CEO, der sich hauptsächlich auf den nächsten Monatsumsatz, die Finanzen, die Überprüfung vergangener Ergebnisse, die Planung, den 90-Tage-Zyklus etc. fokussiert. Ich bin fest davon überzeugt, dass der moderne CEO mit allen Mitarbeitern, allen Märkten und allen Funktionen in Kontakt stehen muss und dabei tief involviert in alle Themen sein muss, die er verantwortet. Ich verbringe bspw. viel Zeit mit Dermatologen, anderen Ärzten und Apothekern, mit denen ich darüber diskutiere, wie sie die Entwicklung des Gesundheitswesens sehen. Und natürlich mit den Verbrauchern, um zu versuchen deren Entscheidungsprozesse zu verstehen, um somit die zukünftige Entwicklung vom Produkt über die Dienstleistung bis zur Erfahrung hin abzudecken. Ich bin fest davon überzeugt, dass man als CEO mehr Zeit in den Wohnungen der Verbraucher als in den Konferenzräumen der Zentrale verbringen sollte.

Kann „Agile Leadership“ in globalen Konzernen, die über eine bestimmte Größe hinausgehen, wirklich Anwendung finden? Was bedeutet das für die Unternehmensstruktur?

Ich glaube schon. NAOS ist in 100 Ländern tätig und 75% unseres Umsatzes erwirtschaften wir außerhalb unseres Heimatlandes Frankreich. Die Größe hat sicherlich einen Einfluss, aber die Prinzipien sind die gleichen. Selbst in großen, multinationalen Konzernen, waren die inspirierendsten Unternehmensführer diejenigen, die viel reisten, Menschen trafen und in Kontakt traten – und hierüber die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Das hängt auch sehr stark mit der Unternehmensstruktur zusammen. Wir bei NAOS glauben nicht an Hierarchie. Die von uns entworfene Organisation ist flach – und das Organigramm unseres Führungsteams sieht fast so aus wie eine Blume mit überlappenden Blütenblättern. Die Schnelligkeit unserer Entscheidungen ergibt sich aus genau diesen Überschneidungen und der nahtlosen Arbeitsweise.

Gibt es bestimmte Vorteile, die Familienunternehmen automatisch gegenüber anderen Unternehmenstypen in Bezug auf „Agile Leadership“ haben?

Familienunternehmen haben in dieser Hinsicht einige Vorteile, insbesondere in einer langfristigen Betrachtung. So z.B. die Vorstellung, dass sie für die kommenden Generationen existieren, dass es wichtiger ist hart an der richtigen Lösung zu arbeiten als sich in einfache Auswege zu flüchten. Sie verfolgen einen ganz anderen Ansatz im Vergleich zu nicht-familiengeführten Unternehmen, die oftmals nur auf das nächste Quartal oder den TSR (Total Shareholder Return) schauen. Ein zweiter, wichtiger Punkt ist, dass Familienunternehmen eine große Anziehungskraft auf Top-Talente haben können. Führungskräfte finden dort oftmals besser den Sinn ihrer Arbeit, sehen in ihrer Rolle einen Zweck und erkennen, wie sie ihre Handschrift auch für die Zukunft hinterlassen können.

Welche Auswirkungen hat „Agile Leadership“ auf die Gewinnung und Entwicklung von Talenten?

Es gibt drastische Unterschiede in der Art und Weise, wie wir Talente auswählen. In der Vergangenheit erfolgte dies auf sehr funktionale Weise: Unternehmen fokussierten sich hauptsächlich auf analytisches Denken, Kreativität und Zusammenarbeit. Heute suchen wir bei NAOS nach einem Gleichgewicht zwischen funktionaler Expertise und der Fähigkeit von Talenten, den Dingen, die sie tun, einen Sinn zu geben. Wir wollen Menschen, die ein „heiliges Feuer“ in sich tragen. Und gleichermaßen, wie ich bereits sagte, suchen Talente selbst nach Bedeutung in dem, was sie tun. Aus diesem Grund kommen die Menschen zu NAOS, denn wir ebnen ihnen mehr Freiraum, ermöglichen schnellere Entscheidungsfindung und erlauben ihnen Leistung und Zweck zu verbinden. Wir nennen es unsere „raison d’être“.

NAOS beschreibt sich selbst als „ein zweckorientiertes Unternehmen mit einer Mission, inspiriert von dem Anspruch einer humanistischen Utopie“. Diese Ausdrucksweise ist sehr distinktiv und klingt eher nach dem Leitbild einer NGO als nach einem Unternehmen! Wie bringt NAOS Humanismus und Idealismus mit der kommerziellen Realität in Einklang?

Das utopische Credo stammt von unserem Gründer, Jean-Noël Thorel. NAOS ist nicht nur ein Unternehmen, sondern eine Bewegung. Unternehmen haben heutzutage die Macht, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern – etwas, was selbst für Regierungen schwierig geworden ist. Ein Beispiel: Wir bei NAOS sehen die Haut als ein Ökosystem, das in einem menschlichen Ökosystem lebt, welches selbst wiederum in einem planetarischen Ökosystem lebt. Wir fokussieren uns auf die menschliche Pflege und Gesundheit und haben erkannt, dass es auf einem kranken Planeten keine gesunden Menschen geben kann. Wir stellen diesen Status Quo durch die Ökobiologie in Frage, um von „Skin Care“ über „Health Care“ zu „Human Care“ zu gelangen. Den faktischen Beweis für unsere Vorgehensweise lieferte im vergangenen Jahr Jean-Noël Thorel, der einen unglaublichen Glaubensakt vollbrachte und 100% seiner Unternehmensanteile an eine gemeinnützige Aktionärsstiftung spendete. So etwas ist in Frankreich schon ziemlich visionär.

Mussten Sie in der Abwägung von Werten und Verkaufszahlen schwierige Entscheidungen treffen?

Ja, beispielsweise in der Produktkategorie „Sonne“. Es gibt viele Inhaltsstoffe, die in Sonnenschutzprodukten zugelassen sind, die viele unserer Wettbewerber auch verwenden und die auch unsere Umsätze hätten steigern können. Einige dieser Inhaltsstoffe dringen jedoch in die Haut und das Ökosystem des Körpers ein, so dass wir beschlossen haben, sie nicht zu verwenden und entsprechende Produkte vom Markt zu nehmen. So ist Esthederm die einzige Marke, deren Sonnenschutzprodukte keinen LSF (Lichtschutzfaktor) aufweisen, weil wir glauben, dass Licht die Quelle des Lebens ist und wir harmonisch mit ihr leben sollten. Wir verfolgen eine andere Philosophie als die große Schönheitsindustrie und sehen unsere „raison d’être“ als einen Kampf gegen das, was wir nicht akzeptieren – nicht als einen Kampf gegen die Konkurrenz.

NAOS ist stolz darauf, dass das Unternehmen seit 40 Jahren bahnbrechende Innovationen auf den Markt bringt und mehr als 60 Patente angemeldet hat. Wie gelingt es einem Unternehmen eine echte (und nachhaltige) Innovationskultur schaffen?

Innovation liegt in der DNA unseres Gründers und unseres Unternehmens. Unsere Mitarbeiter wollen etwas bewegen und den Status Quo von Produkten, Dienstleistungen oder Erfahrungen hinterfragen. Und auch extern gehen wir Partnerschaften mit genau den Menschen ein, die an diesen „vierten Weg des Handelns“ glauben.

Seitdem Sie CEO von NAOS geworden sind, welche Führungsbotschaften haben Sie dem Führungsteam vermittelt und was haben Sie von ihnen gelernt?

Ich habe viel von den Menschen bei NAOS gelernt. Sie haben meine Software neu verdrahtet und damit eine andere Bedeutung bewiesen: Das Ziel ist es nicht, mehr zu verkaufen, sondern das Leben zu verbessern! Ihnen gegenüber habe ich versucht, das Konzept des „servant leadership“ und der „Führung als Sozialarchitektur“ zu teilen und vorzuleben.

Eine abschließende Frage: Wenn Sie in der Zeit zurückgehen und Ihrem jüngeren, 21-jährigen Selbst einen Führungsratschlag geben könnten, wie würde dieser lauten? Und was wissen Sie heute, von dem Sie sich wünschen, Sie hätten es damals bereits gewusst?

Das Geheimnis des Glücks besteht darin, ständig zu lernen und Dinge wie ein Schwamm aufzunehmen. Ich muss gestehen, dass ich dies bei NAOS nun wesentlich stärker tue – und mich freue dies fortzusetzen.

Herr Houdayer, wir bedanken uns für diese Einblicke!