Die Welt braucht unternehmerische Philanthropie

Ein Interview mit Etienne Eichenberger, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von WISE Philanthropy Advisors

von Alexandra Jequier & Nick Harris

Etienne Eichenberger ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von WISE Philanthropy Advisors. WISE berät Unternehmen in allen Planungsphasen, um den größten Impact aus philanthropischen Projekten herauszuholen: von der Gründung von Stiftungen und der Beratung zu konkreten Anliegen bis hin zur Durchführung von Maßnahmen vor Ort.  Etienne Eichenberger ist zudem Präsident der Swiss Philanthropy Foundation, einer führenden Schweizer Bürgerstiftung; Mitbegründer der Foundation Board Academy und Mitglied im Beirat von BoardforGood.org sowie P4NE.org. Er wurde kürzlich durch das Citywealth Magazin mit dem Philanthropy Advisor of the Year Silver Award 2022 ausgezeichnet

Wie sind Sie zur Philanthropie gekommen?

Gegründet wurde WISE Philanthropy Advisors vor 20 Jahren, weil wir einen Bedarf an professioneller Beratungsleistung wahrnahmen für diejenigen, die Gutes tun wollten. Früher war Philanthropie etwas für Menschen, die sich die Zeit dafür nehmen konnten oder schon ein gewisses Alter erreicht hatten. Heute dagegen herrscht in der gesamten Gesellschaft ein stärkeres Bedürfnis, philanthropische Arbeit zu leisten, und diese ist Teil der lebenslangen Reise geworden. Deshalb steigen die Erwartungen: Wie man sinnvoll spendet, an wen man spendet und wie man diese Entscheidungen trifft – all das sind wichtige Aspekte. WISE hilft einzelnen Personen, Unternehmern und Familien, sich philanthropisch zu engagieren.

Welche jüngsten Entwicklungen haben Sie beobachtet? Wie hat sich die philanthropische Landschaft entwickelt?

Die Hälfte aller Stiftungen ist in den vergangenen 20 Jahren gegründet worden. Heute gibt es in der Schweiz über 13.000 Stiftungen. Im Jahr 2021 wurden 365 neue Stiftungen gegründet, das heißt jeden Tag eine. Der Schweizer Durchschnittswert der Stiftungen pro 10.000 Einwohner liegt fast unverändert bei 15,5 – ein Spitzenwert im weltweiten Vergleich.

Das 20. Jahrhundert war geprägt von staatlichem Handeln: Staaten regelten, was „gut“ für die Gesellschaft ist. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich hingegen die Erkenntnis durchgesetzt, dass sowohl der private Sektor als auch die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung der philanthropischen Agenda einnehmen. Was die Zivilgesellschaft betrifft, so haben Stiftungen die wichtige Aufgabe, diese in ihrer Rolle zu unterstützen: sowohl in der kritischen Hinterfragung der Rolle von Staaten, als auch in einer ergänzenden Finanzierungsrolle. Wobei sich dies in unterschiedlichen kulturellen Kontexten auch unterschiedlich gestalten kann.

Was bedeutet Philanthropie für Sie und für Ihre Kunden?

Philanthropie ist eine wichtige und äußerst dankbare Möglichkeit für Einzelpersonen und Familien, in einer sich rasch verändernden Welt etwas zu bewirken. Wobei die Herausforderungen sowohl durch den Klimawandel als auch die soziale Ungleichheit noch verstärkt werden. Philanthropie ist ein Akt der Großzügigkeit, der in der DNA der Menschen und manchmal auch in der Familienhistorie verankert ist. Sie kann eine individuelle Reise oder auch eine kollektive Erfahrung für eine Familie darstellen. Philanthropie ermöglicht es, Familienbande über Generationen hinweg wiederzubeleben und neue Talente und Facetten aneinander zu entdecken. Philanthropie ermöglicht, dass Werte gelebt werden können – durch den Akt des Gebens. Familiäre Philanthropie-Projekte können, wenn sie richtig geplant sind, auch eine gute Möglichkeit sein, die Motivation und Energie der jüngeren Generation zu nutzen. Nicht zuletzt ist Philanthropie ein Mittel zum Zweck – das Ziel ist es, Menschen dabei zu helfen, langfristig sozial etwas zu erreichen und zu bewirken.

Was sind die Herausforderungen und was sind die Fehler, die es zu vermeiden gilt?

Nur weil man gut darin ist, Wohlstand zu schaffen, heißt das noch lange nicht, dass man ihn auch gut verteilt. Genauso wie sich die Welt um uns herum verändert, so wandelt sich auch die Philanthropie, und Familien, die sich philanthropisch betätigen, suchen nach neuen Wegen um sicherzustellen, dass sich ihre Spenden als sinn- und wirkungsvoll erweisen. Unsere Erfahrung zeigt, dass man einstweilen eine emotionale innere Reise durchläuft, bevor es zu einem strukturierten philanthropischen Prozess kommt. Um den richtigen Weg für sich zu finden, empfiehlt es sich zur Klärung wesentlicher Punkte zunächst einige wichtige Fragen zu beantworten, bevor man in Aktion tritt. Der Family Philanthropy Navigator hilft dabei, sich die richtigen Fragen zu stellen. Er bietet einen unkomplizierten, schrittweisen Leitfaden für Familien, die sich schon länger philanthropisch engagieren oder auch erst vor kurzem dazu entschlossen haben, ihren Weg des Stiftens und Spendens einleiten oder ausbauen zu wollen.

Sehen Sie unterschiedliche Ansätze und Ziele für die verschiedenen Generationen? Wie kann man eine Familie für eine gemeinsame Vision zusammenbringen?

Am Anfang stellt Philanthropie oft die Entscheidung eines Einzelnen dar, der den Anstoß dazu gibt, bevor er die anderen Familienmitglieder einweiht. Philanthropie kann eine fantastische Gelegenheit für Eltern sein, ihren Kindern zu zeigen, dass Reichtum eine Chance ist, zu teilen, Verantwortung zu übernehmen, Gutes zu tun – und darin gut zu werden. Man muss allerdings auch verstehen, dass sich das Geben über Generationen hinweg komplexer gestaltet. Der Initiator sollte sich daher die Verantwortung mit anderen teilen, um eine gewisse Harmonisierung zu erreichen. Nur so kann ein gemeinsames Projekt entstehen, in dem sich andere ebenfalls engagieren wollen. Dabei muss man bescheiden bleiben und verstehen, dass eine Person niemals Antwort auf alles geben kann. Es braucht einen klaren Rahmen und eindeutige Regeln, die sowohl für einen selbst als auch für andere gelten sollen, um langfristig erfolgreich zu sein. Die Entscheidungen, die im Laufe der Zeit zur Wertschöpfung beitragen werden, lassen sich mit Hilfe eines klaren Regelwerks leichter treffen.

Wie kann ein gemeinsames philanthropisches Ziel genutzt werden, um die nächste Generation zur Zusammenarbeit zu bewegen? Welche Auswirkungen hat Philanthropie auf Familien?

Die Gesellschaft als Ganzes steht vor zunehmenden Spannungen und Herausforderungen im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen Generationen, die über sehr unterschiedliche Perspektiven verfügen können. Sich als Familie philanthropisch zu engagieren, kann zu einer holprigen Erfahrung werden, wenn dies nicht gut durchdacht in Gang gesetzt wird (oder neu durchdacht) wird. Es ist daher wichtig, einen sicheren Raum für gute Diskussionen und einen Handlungsrahmen zu schaffen. Durch das Besprechen philanthropischer Maßnahmen kann es sich einfacher gestalten, heikle Themen unter Vermögensbesitzern zu diskutieren: zum Beispiel die Frage, was Geld für sie bedeutet, sowohl im individuellen als auch kollektiven Sinne. Man versucht, ein gemeinsames Fundament zu definieren, und so lernt man, wie man über eine ganze Bandbreite von Themen sprechen kann, und man lernt auch, gut zuzuhören. Philanthropie bietet ein Handlungsfeld, auf dem man die nächste Generation aktivieren kann, bevor sie in den Bei- bzw. Aufsichtsrat eines Familienunternehmens eintritt. Dabei ist Philanthropie ein Gebiet, in dem eher selten externes Fachwissen eingeholt wird. Es ist jedoch ratsam, eine dritte Partei zu engagieren, die dabei hilft, Entscheidungen zu treffen und die bei Meinungsverschiedenheiten gelegentlich schlichtend auftritt.

Aus unserer Sicht wird der Druck auf Stifterfamilien weiter zunehmen, für eine größere Vielfalt in ihren Aufsichtsgremien zu sorgen. Erfolgreiche Familien integrieren daher externe Personen in ihren Bei- bzw. Aufsichtsräten; auch weil Familienmitglieder sich in der Regel anders verhalten, wenn neben ihnen noch andere Personen „mit am Tisch sitzen“! Ein wichtiger Faktor ist dabei, dass eine Kultur der Fürsorge herrscht und am Leitgedanken der verantwortungsbewussten Inhaberschaft festgehalten wird.

Was sind die Vor- und Nachteile der Gründung einer eigenen Stiftung gegenüber der Partizipation an einer übergreifenden Stiftung?

Eine Stiftung hat keine Auftraggeber, keine Kunden, keine Aktionäre – sie hat nur Begünstigte. Das macht sie zu einer besonderen Organisationsform. Gleichzeitig sind die Ziele einer Stiftung einer sehr starren rechtlichen Struktur unterworfen. Wir glauben, dass der Zeitaufwand und die Verwaltungskosten, die damit einhergehen, oft mit denen vergleichbar sind, die bei der Führung eines KMU anfallen. Man muss sich daher ehrlich fragen, ob man diese Last tragen will, und sollte anhand der verfügbaren Zeit und Ressourcen prüfen, wie der richtige Rahmen aussieht:

  • Einer Stiftung sollte man zeitlich voll und ganz zur Verfügung stehen können. Falls das jedoch nicht zutrifft und man genau bestimmen möchte, wohin Geld fließt und wie es wirkt, kann eine Zustiftung in ein professionell gemangtes Vehikel wie einen Donor-Advised-Fund die richtige Lösung sein.
  • Manchmal sind Stiftungen auch zu klein. Unserer Erfahrung nach lohnt es sich unter zehn Millionen CHF/EUR oft nicht, eine eigene Stiftung zu gründen.

Stiftungen werden zu Recht sorgfältig von der staatlichen Aufsicht geprüft, ebenso wie Dach- und Gemeinschafts-/Bürgerstiftungen (welche Donor-Advised-Funds beherbergen). Bei Letzteren wird die Aufsicht über die Donor-Advised-Funds an die Hauptstiftung delegiert, sodass man sich zeitlich mehr dem eigentlichen philanthropischen Wirken widmen kann.

Wie findet man den richtigen Verwalter/Manager für eine Stiftung?

Das hängt von der Art der Stiftung ab und davon, wie viel Zeit und Geld man dafür investieren will und welche Ziele man verfolgt. In einigen Fällen braucht es nur administrative Unterstützung, in anderen ist die Zusammenarbeit mit Philanthropie-Beratern der beste Weg. Und manchmal ist es auch erforderlich, eine Führungskraft einzustellen, um das Vorhaben zu realisieren. Wir empfehlen unseren Klienten, professionelle Personalberater hinzuzuziehen, die ihnen helfen, das richtige Profil zu bestimmen und zu gewinnen. Entscheidend sind die Menschen, ihre Persönlichkeiten, Fähigkeiten, Netzwerke und Werte. Zusammengefasst besteht mein Rat darin, bei der Suche nach der richtigen Unterstützung darauf zu achten, dass er oder sie sowohl relevante Erfahrung als auch Integrität besitzt.

Welche Auswirkungen hatte die Pandemie?

Die Corona-Pandemie hat auch in der philanthropischen Bewegung ihre Spuren hinterlassen; sie hat uns alle fast zur gleichen Zeit getroffen. Sie ist auch die erste große Krise, mit der das Zeitalter der multiplen Krise (poly-crisis) eingeläutet wurde. Bei uns und in den übrigen OECD-Ländern war es wie ein Weckruf, der uns daran erinnert hat, dass jeder von uns anfällig und verletzlich ist. Aber wenn wir genauer darüber nachdenken, kann uns die Philanthropie selbst in den schwierigsten Zeiten dabei helfen, die Werte, die uns als Individuen, Familien oder Gesellschaft wichtig sind, herauszustellen oder zu priorisieren. Familienunternehmen wissen am besten, wie man Widrigkeiten in Chancen verwandelt. Stiftungen würden von mehr „unternehmerischer Philanthropie“ mit größerem Engagement erheblich profitieren.

Etienne, vielen Dank für diese Einblicke!