Aufsichtsgremien in Krisenzeiten

Was sich geändert hat – und was sich ändern muss

von Felix B. Waldeier

Seit Jahresanfang hält die durch das Coronavirus verursachte globale Pandemie die Welt in Atem. Der Ausgang ist derzeit noch ungewiss, die Prognose des „New Normal“ gestaltet sich schwierig, und dennoch lässt sich bereits festhalten: Die Auswirkungen der Pandemie auf die weltweite Wirtschaft in den vergangenen Wochen und Monaten waren von historischem Ausmaß. In so gut wieder jeder Branche war das operative Geschäft stark betroffen: Neue Anforderungen an die Produktion (oder gar deren temporäre Stilllegung), Instabilität der Lieferketten, große Veränderungen in der Nachfrage (sowohl positiver als auch negativer Art) und nicht zuletzt Millionen von Arbeitnehmern, die von heute auf morgen ins „Home Office“ gezwungen wurden. Einige Unternehmen meistern diese Herausforderungen besser, andere schlechter. Die meisten leiden heftig unter der Krise, unterdessen andere an der Kapazitätsgrenze produzieren und Rekordumsätze vermelden.

Doch die Pandemie beeinflusst nicht nur das operative Geschäft, sondern ebenso die die Arbeit von Aufsichtsgremien. Und zwar sowohl mit Blick auf kurzfristig notwendige Anpassungen (wie bspw. virtuellen Austausch) als auch mittel- bis langfristige Grundsatzentscheidungen. Im Folgenden möchten wir einige Beobachtungen aus unserer Beiratsarbeit der letzten Wochen aufzeigen – und darüber hinaus auch Anregungen und Empfehlungen geben, wie die Arbeit in und die Zusammensetzung von Aufsichtsgremien in Coronazeiten, aber insbesondere auch darüber hinaus hinterfragt, angepasst und neugestaltet werden müssen, um Professionalität, Effizienz und Mehrwert sicherzustellen.
In unseren Gesprächen mit Aufsichtsrats- und Beiratsmitgliedern schilderten diese, dass die meisten Gremien auf die neuen Herausforderungen nicht vorbereitet waren. Sichtbar wurde dies in dreierlei Hinsicht:

Art des Austauschs: Die meisten Gremien verzichten seit Ausbruch der Pandemie auf persönliche Treffen. Gleichzeitig zeigte sich jedoch, dass die für virtuelle Meetings notwendige technologische Infrastruktur oftmals nicht gegeben war – und zugleich auch, dass viele Gremienmitglieder nicht oder nur unzureichend mit der Nutzung neuer Technologien vertraut waren. Viele Gesprächspartner berichteten, dass die Qualität des Austauschs darunter stark leiden würde – nicht nur aufgrund der Technik, sondern auch weil kleine informelle Gespräche am Rande nicht mehr stattfinden, da alle gemeinsam und durchgehend im virtuellen Raum sitzen.

Regelmäßigkeit des Austauschs: Viele Gesprächspartner gaben an, dass ein intensiverer Austausch notwendig sei, um auf die deutlich schnelleren und unvorhersehbareren Entwicklungen eingehen und die Vorgehensweise anpassen zu können. Quartalsweise Sitzungen, wie in vielen Unternehmen bislang üblich, sind in diesen Zeiten nicht ausreichend.

Inhalte des Austauschs: Die Auswirkungen der Coronakrise treffen viele Unternehmen in ihrer Gesamtheit und stellen alle Unternehmensfunktionen vor substanzielle Herausforderungen. In vielen Aufsichtsgremien gab es in der Vergangenheit klare „Schwerpunktthemen“, die eine zentrale Rolle in den Sitzungen einnahmen. Nun ist deutlich mehr Breite gefragt – zum einen da das Management den entsprechenden Input und Rat stärker denn je einfordert; zum anderen weil Themen, die viele Jahre „problemlos“ liefen und damit selten oder nie den Weg auf die Agenda fanden, plötzlich im Fokus stehen. Diese Breite im Austausch ist jedoch in vielen Aufsichtsgremien aufgrund einer suboptimalen Zusammensetzung oder fehlender Kernkompetenzen limitiert.

Zahlreiche Unternehmen beziehungsweise deren Aufsichtsgremien haben auf diese Herausforderungen schnell reagiert – und dabei wertvolle Erkenntnisse gewonnen. So kann ein persönliches Treffen durch eine Videokonferenz ersetzt werden – ein Selbstläufer ist das allerdings nicht: Das neue Format erfordert eine darauf abgestimmte Diskussion sowie eine passende Agenda, um Mitglieder zu involvieren, Input zu erzeugen und Mehrwert sicherzustellen. Einige Gremien haben aus ihren ersten Videokonferenzen gelernt und die formelle Struktur verändert (häufigere, aber kürzere Meetings; weniger „durchgetaktete“ Agenda), um ein höheres Maß an Agilität zuzulassen. Gleichzeitig schilderten uns einige Gesprächspartner, dass die Arbeit im Gremium deutlich effizienter geworden sei. Die hohe Verantwortung sowie der Bedarf, kritische Entscheidungen schnell zu treffen, haben die Zusammenarbeit anscheinend substanziell verbessert. Oder anders gesagt: Man kommt deutlich schneller auf den Punkt, da man weniger Zeit zu verlieren hat. Mit Blick auf die Inhalte des Austauschs hat sich für viele gezeigt, wie wichtig ein hohes Maß an Diversität ist, um auf Basis verschiedener Hintergründe und Ansichten die richtigen Schlüsse und Entscheidungen in der Krise zu ziehen. Und gleichzeitig reicht es nicht, diese Vielfalt nur „an Bord“ zu haben – die entsprechenden Kompetenzen und das Wissen müssen auch genutzt werden. Mitglieder, die vielleicht in der Vergangenheit unter einem starken Vorsitzenden nur eine untergeordnete Rolle eingenommen haben, können in der jetzigen Phase große Bedeutung erlangen.

Doch wie geht es weiter? Natürlich befinden wir uns aktuell in einer Ausnahmesituation. Doch auch wenn „Corona irgendwann vorbei ist“, sollten wir nicht vergessen, dass Ähnliches erneut vorkommen kann – ob durch ein Virus oder einen anderen Auslöser. Wir leben zunehmend in einer „VUCA-Welt“ (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity). Umso wichtiger ist es, auch mit Blick auf Aufsichtsgremien die Krise als Chance zu nutzen („never waste a good crisis“). Es können nun Anpassungen vorgenommen werden, die auch nach der Krise für ein höheres Maß an Wertstiftung und Professionalität sorgen. Im Folgenden hierzu einige gedanklich Anstöße:

Die Art des Austauschs anpassen: Wir sind überzeugt, dass die neue Art des Austauschs (häufiger, virtueller, agiler) auch „nach Corona“ ein wichtiger Modus für zukünftige Gremienarbeit sein wird. Entsprechend sollten verschiedene digitale Technologien und Lösungen genutzt werden, um das Aufsichtsgremium zukunftsfähig zu machen. Dies geht weit über die Nutzung von Videokonferenzen hinaus und kann digitales Dateimanagement, Abstimmungen, lateralen Austausch, Kommunikation mit Stakeholdern außerhalb des Beirats etc. betreffen. Auch sollte das Format persönlicher und virtueller Sitzungen überdacht werden. Einige unserer Gesprächspartner berichteten, wie erfrischend es sei, dass die Agenda ihrer virtuellen Meetings deutlich weniger formal sei, es keine endlosen PowerPoint-Präsentationen mehr gebe und man viel schneller zum Punkt und zu Entscheidungen komme. Das kann natürlich nur funktionieren, wenn im Vorfeld auch sichergestellt wird, dass alle Teilnehmer mit ausreichend Vorlauf Zugang zu allen wichtigen Informationen haben und sich vorbereiten können. Viele Gremienmitglieder haben allerdings auch festgestellt, dass der virtuelle Austausch deutlich „anstrengender“ als der persönliche sei – wir empfehlen daher anstelle einer langen Sitzung mehrere kürzere sowie genügend Pausen dazwischen.

Kritische Kompetenzen prüfen: Besonders in der Krise zeigt sich, auf welche kritischen Kompetenzen (funktional, unternehmerisch, methodisch, menschlich) es ankommt – und ob diese im Aufsichtsgremium ausreichend vorhanden sind. Professionell durchgeführt, kann ein „Board Review“ das bestehende Kompetenzgeflecht sowie etwaige Lücken klar herausarbeiten und eine Einschätzung geben, ob alle Anforderungen (beispielsweise hinsichtlich Branche, Markt, Funktion, Innovation, Internationalität, Digitalisierung) abgedeckt werden. Und zudem auch aufzeigen, wie die Zusammenarbeit künftig noch besser und effizienter erfolgen kann. Dabei sollte beherzt, aber auch abwägend und mit langfristiger Orientierung vorgegangen werden. Es wird zum Beispiel wenig bringen, schnell und unüberlegt einen „jungen Digitalexperten“ an Bord zu holen und das Gremium ansonsten so zu belassen, wie er ist. Das Risiko, dass „der Neue“ zum Außenseiter wird und die bestehenden Mitglieder in gewohnten Mustern weiterarbeiten, ist einfach zu groß.

Besetzung überprüfen: Neben den Kompetenzen sollte auch die Zusammensetzung an sich überprüft werden. Unter dem Stichwort „Diversität“ vereinen sich viele Dimensionen: Geschlecht, Alter, Herkunft, internationale Erfahrung, sozialer und beruflicher Hintergrund, etc. Und gleichzeitig reicht Diversität über diese offensichtlichen Kriterien hinaus: Bei der Auswahl von Gremienmitgliedern sollte insbesondere auch verstanden werden, wie diese denken und fühlen, um auch eine Diversität von Perspektiven sicherzustellen. Personen, die kreative Ansätze einbringen, außergewöhnliche Erfahrungen gemacht haben, für Agilität und Dynamik stehen oder Wissen im Rahmen digitaler Transformationen erworben haben, können eine sinnvolle Ergänzung sein. Auch kann es hilfreich sein, bewusst Personen zu verpflichten, die zuvor keine spezifische Gremienerfahrung gesammelt haben.

Klare Entscheidungen: Insbesondere in stürmischen Zeiten werden etwaige Ineffizienz, der Mangel an Kompetenz oder Professionalität sowie fehlendes Verantwortungsbewusstsein deutlich sichtbar. Einige Gesprächspartner berichteten von zuletzt deutlich entscheidungsfreudigeren Gremien, die teils radikale oder längst überfällige Beschlüsse nun konsequent getroffen und umgesetzt hätten. Dies gilt sowohl mit Blick auf operative Geschäfte, vor allem aber auch aus einer Eigentümerperspektive mit Blick auf das Aufsichtsgremium selbst. Jetzt ist ein guter Moment, um auch in diesen Reihen aufzuräumen und sich von Mitgliedern zu trennen, die den Kreis vielleicht schon längst hätten verlassen sollen. Oder anders gesagt: Die Krise als Chance nutzen, um die neuen Anforderungen an das Gremium durch eine entsprechende Besetzung und klare Zuweisung von Verantwortung sicherzustellen.

Dies sind nur einige von vielen Empfehlungen, um wertstiftende, effiziente Aufsichtsarbeit nicht nur in Krisenzeiten sicherzustellen, sondern auch um das Gremium für künftige Herausforderungen gut aufzustellen. Und da die Welt weiterhin „VUCA“ bleiben wird, raten wir dazu, die Gremienarbeit regelmäßig etwa mit Hilfe von Board Reviews zu überprüfen und relevanten Veränderungen Rechnung zu tragen.