Warum Familienräte langfristigen Erfolg in Familienunternehmen fördern

Ein Interview mit Cristina Carvajal, Vorsitzende des Carvajal-Familienrats



von Dr. Christian Bühring-Uhle & Alexandra Jequier

Als Mitglied der vierten Generation des kolumbianischen Familienunternehmens Carvajal S.A. mit Hauptsitz in Cali kennt Cristina Carvajal die besonderen Chancen, aber auch Herausforderungen generationenübergreifender Führung aus eigener Erfahrung. Sie ist eine passionierte Führungspersönlichkeit mit umfangreicher Erfahrung im Umgang mit Familiendynamiken, gesellschaftlicher Verantwortung und der Leitung von Organisationen. Ihr professioneller Blick gründet in der langen Geschichte ihrer Familie, die sich über sechs Generationen erstreckt.

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist sie im Familienrat der Carvajal-Gruppe aktiv und führt diesen seit 2020 als Vorsitzende. In dieser Funktion hat sie strategische Initiativen angestoßen, die den familiären Zusammenhalt gestärkt und die langfristige Kontinuität des Unternehmens gesichert haben. Zwischen 2019 und 2024 war sie zudem Geschäftsvertreterin des Family Business Network (FBN) in Cali, der Kaffeeanbauregion Eje Cafetero und in Guatemala. Dort förderte sie die regionale Vernetzung und unterstützte die Entwicklung von Familienunternehmen. Darüber hinaus war sie als Sprecherin für FBN Kolumbien und FBN Ecuador tätig.

2013 gründete Cristina Carvajal das FBN-Chapter in Ecuador und leitete es anschließend bis 2019. In dieser Funktion trug sie maßgeblich zur Kooperation und zum Wachstum von Familienunternehmen in der Region bei. Parallel dazu war sie Direktorin der Fundación Corazones Valientes (übersetzt: Stiftung „Tapfere Herzen“) in Quito und setzte sich dafür ein, Kindern aus einkommensschwachen Familien den Zugang zu lebensrettenden Krebsbehandlungen zu ermöglichen.

Frau Carvajal, welche Aufgaben erfüllt ein Familienrat und wann ist aus Ihrer Sicht der richtige Zeitpunkt, ein solches Gremium zu schaffen?

Der Familienrat hat die Aufgabe, den Zusammenhalt innerhalb der Familie zu fördern, gemeinsame Werte zu stärken und die Familie als Einheit zu bewahren. Unsere Familie hat diesen Weg vor mehr als 25 Jahren mit der Ausarbeitung eines Familienprotokolls begonnen.

Der richtige Zeitpunkt zur Einrichtung eines Familienrats ist von Familie zu Familie unterschiedlich. Einen idealen Zeitpunkt gibt es nicht, doch in der zweiten Generation kann sich die Einführung als sinnvoll erweisen; insbesondere, wenn die Kinder erwachsen sind und Schwiegerkinder hinzukommen. Dann verändern sich die Gespräche innerhalb der Familie: Die dritte Generation wächst heran, und es stellen sich neue Fragen, beispielsweise wer für die Ausbildung der Kinder aufkommt oder ob sie eines Tages im Familienunternehmen tätig sein dürfen.

Wenn die Kinder älter werden und einige im Familienunternehmen tätig sind, während andere außerhalb arbeiten, verändert sich die Kommunikation, da sich Informationen und Perspektiven zunehmend unterscheiden. Sobald familiäre Themen beginnen, den Betrieb zu beeinflussen, ist meist der Zeitpunkt gekommen, getrennte Räume für Familien- und Unternehmensgespräche zu schaffen. Aus diesen Austauschformaten kann sich ein Familienrat entwickeln, der klare Grenzen und Strukturen definiert.

Und wie lässt sich die nächste Generation frühzeitig in diese Strukturen einbinden?

Kinder lassen sich bereits im frühen Alter auf positive Weise für das Unternehmen begeistern. Viele Familien beginnen damit jedoch zu spät. Wenn man erst im Alter von 18 Jahren mit der nächsten Generation über das Unternehmen spricht, sind viele wertvolle Jahre verloren.

Wir pflegen den „Carvajal-Geist“ ganz bewusst, damit die Familienmitglieder das Unternehmen lieben lernen und unsere Werte schon als Kinder verinnerlichen. Neugeborene erhalten ein Willkommensgeschenk, zum Schulstart gibt es eine Schultasche, dazu ein Buch über unsere Werte. Wir achten auch darauf, dass sich die nächste Generation untereinander gut versteht, beispielsweise durch gemeinsame Aktivitäten oder kleine Rituale. So haben wir beispielsweise ein Familienalbum gestaltet, ähnlich einem Panini-Sammelalbum: Jedes Familienmitglied erhält ein leeres Album, in welchem alle Generationen abgebildet sind, und klebt die Fotos der entsprechenden Personen ein. So lernen sich die Mitglieder bei einer großen Familie überhaupt gegenseitig kennen, was sonst schwer wäre.

Der Einstieg in den Familienrat, der immer beliebter wird, kann über Familienversammlungen erfolgen, über organisierte Besuche im Familienunternehmen oder über das Teilen der Vision der ersten Generation und ihrer Vorstellung davon, wie die Familie in den zukünftigen Generationen aussehen soll.

Wie würden Sie die Vorsitz-Rolle des Familienrats beschreiben?

Ein guter Vorsitzender muss innerhalb der Familie hohe Glaubwürdigkeit genießen. Sie oder er sollte die Familie gut kennen und verstehen, was ihr wirklich wichtig ist und  was für sie am besten ist. Zugleich muss man objektiv genug sein, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Diese Person an der Spitze muss äußerst engagiert, zugewandt und leidenschaftlich für die Familie, das Unternehmen und die eigene Rolle sein.

Von großer Bedeutung sind dabei Verfügbarkeit, Transparenz und Glaubwürdigkeit sowie die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Die oder der Vorsitzende des Familienrats muss zudem jemand sein, dem man vertrauen kann und der den Mut hat, schwierige Gespräche zu führen. Ebenso wichtig ist es, Gespräche klar zu führen, rational zu bleiben und sicherzustellen, dass alle Perspektiven wirklich Gehör finden.

Ein guter Vorsitzender integriert die Anregungen der Familie in die Sitzungen und zeigt damit, dass alle Sichtweisen Beachtung finden. Er oder sie sollte eine fähige Führungskraft und ein geschickter Vermittler sowie verfügbar sein. Ich selbst bin mit viel Engagement dabei und fast jederzeit erreichbar, obwohl es sich nicht um einen Vollzeitjob handelt.

Mir hat es sehr geholfen, wirklich zu verstehen, wo Menschen stehen und woher ihre Gefühle kommen. Wir haben 342 Familienmitglieder, und alle fühlen sich wohl dabei, offen über große Themen mit mir zu sprechen. Ich habe nicht die dominante Stimme meiner Vorgänger. Das wiederum ist aber ein Vorteil, weil sich die Menschen im Gespräch mit mir sicher fühlen. Es ist eine andere Art von Führung, die der Familie ein gutes Gefühl gibt.

Welche Kriterien sind für die Zusammensetzung eines Familienrats wichtig? Und wie sollte er aufgebaut sein, damit er gut funktioniert?

Die Zusammensetzung orientiert sich häufig zunächst an den Familienzweigen. Es ist naheliegend, für jeden Zweig eine Vertreterin oder einen Vertreter zu benennen, doch das allein reicht nicht aus. Zeit ist ein entscheidender Faktor. Die Mitglieder müssen an den Sitzungen teilnehmen und bereit sein, aktiv an der Umsetzung der Entscheidungen mitzuwirken.

Wichtig ist auch ein gutes Gleichgewicht der Geschlechter, Generationen und Perspektiven der Familienmitglieder einschließlich jener, die im Ausland leben. Da wir eine große Familie sind, haben wir ein hybrides System eingeführt. Wir behalten die Vertreter der Stämme bei, wählen aber zusätzlich vier Personen auf Basis ihrer Eignung. Diese müssen folgende Voraussetzungen erfüllen: mindestens 25 Jahre alt sein, einen Hochschulabschluss haben, genügend Zeit mitbringen und bereit sein, sich im Familienunternehmen und dessen Funktionsweise einzuarbeiten. Wir wollen die besten Köpfe, so wie im Aufsichtsgremium eines Unternehmens.

Mit der Zeit wird die Struktur immer ausgereifter. Der Familienrat entwickelt sich zum Beirat der Familie. Wir haben einen Finanzausschuss, einen Risikoausschuss und planen über einen Zeitraum von 20 Jahren. Wir beschäftigen uns mit verschiedenen Fragen, beispielsweise wie die Familie zu bestimmten Themen gegenüber den Medien Stellung bezieht. Das wird selbstverständlich mit dem Unternehmen abgestimmt. Die Amtszeit eines Ratsmitglieds beträgt vier Jahre. Wird ein Platz frei, wird dies bekannt gegeben. Interessierte können sich dann bewerben und anschließend wird gewählt.

Im März haben wir beschlossen, auch die angeheirateten Familienmitglieder zur Mitarbeit im Familienrat einzuladen. Wir möchten, dass sie sich ebenfalls dafür einsetzen, die Kinder im Sinne des Carvajal-Geists und unserer Werte zu erziehen. Deshalb sollen sie teilnehmen, mitmachen und ihre unterschiedlichen Perspektiven einbringen.

Wir haben außerdem einen Sekretär und eine Ombudsperson. Der Sekretär leitet zugleich das Family Office. Wir haben ein klassisches Family Office, das investiert, sowie ein Family Office, das sich um die soziale Dividende kümmert. Die Ombudsperson ist kein Familienmitglied, kennt die Familie aber sehr gut. In der Regel handelt es sich um jemanden, der über 25 Jahre im Familienunternehmen gearbeitet hat. Ihre Aufgabe ist es, die Gesamtperspektive einzunehmen, objektiv zu bleiben, auf die langfristige Kontinuität zu achten und uns gegebenenfalls wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Dafür braucht es eine sensible, kluge Persönlichkeit, die ihre Erfahrung mit uns teilt. Für Ombudspersonen gibt es keine feste Amtszeit, doch unsere neue Regel sieht vor, dass sie mit 72 Jahren ausscheiden. Die Ernennung einer neuen Ombudsperson obliegt dem gesamten Familienrat. Anschließend führen die Familienratsvorsitzende und die bisherige Ombudsperson die neue Person offiziell ein.

Welche ‚Best Practices‘ im Familienrat können Sie empfehlen?

Zunächst sollte man immer an die Zukunft denken und eine langfristige Perspektive einnehmen, beispielsweise über 20 Jahre hinweg, und nicht nur das berücksichtigen, was aktuell passiert. Dann ist eine geordnete Nachfolge im Vorsitz sicherzustellen. Ich wurde eine Woche vor meinem Amtsantritt ernannt, was sehr herausfordernd war. Deshalb bereite ich den nächsten Vorsitzenden bereits seit über einem Jahr vor. Ich würde auch empfehlen, eine Ombudsperson einzusetzen, um Kontinuität zu gewährleisten. Wenn der Vorsitz im Familienrat wechselt, ist es entscheidend, dass jemand die bisherige Arbeit beständig weiterführt. Zudem ist es ratsam, den Vorsitz zu vergüten. Für diese Aufgabe wird man häufig nicht bezahlt, obwohl man eine große Verantwortung trägt und die gesamte Familie repräsentiert.

Als Nächstes sollte dem Familienrat ein bestimmtes Budget bereitstellt werden. Unser Budget stammt aus dem Investmentfonds, nicht aus dem operativen Geschäft. Die Kosten können erheblich sein, etwa wenn Reisekosten für die Teilnahme an der Familienversammlung übernommen werden und der Vorsitz angemessen vergütet wird.

Kommunikation ist das A und O: Die Familie muss als Erstes erfahren, was im Unternehmen passiert. Ein weiterer, großer Punkt ist die Ausbildung guter Gesellschafter, weshalb ein Kalender mit allen Bildungsangeboten, Netzwerktreffen und ähnliches existieren sollte, um sicherzugehen, dass die „nächste Generation die Bildung erhält, die sie braucht, um das Erbe fortzuführen. Verabredungen wie Familienprotokolle und Gesellschaftervereinbarungen zu treffen, gehören ebenfalls dazu.

Die Strategie sollte außerdem von der Umsetzung getrennt werden, mit einem operativen Team für die Ausführung, damit sich der Familienrat auf die Strategie konzentrieren kann. Wenn Regeln an neue Gegebenheiten angepasst werden müssen, sollten sie geändert werden, aber es sollten keine Ausnahmen gemacht werden.  Und zuletzt: Personen, die als „Red Flag“ wahrgenommen werden, weil sie laut auftreten oder Schwierigkeiten verursachen, wird es immer geben. Man sollte sie ernst nehmen, denn sie könnten einen wichtigen Punkt haben.

Wie stimmen sich Familienrat und Unternehmensführung miteinander ab?

Wenn wir einen familieninternen CEO haben, ist der Vorsitz des Beirats nicht in Familienhand. Haben wir hingegen einen familienexternen CEO, liegt der Beiratsvorsitz bei einem Familienmitglied. In der Zusammenarbeit mit dem Unternehmen steht der Familienratsvorsitz vor allem mit der führenden Familienperson im Unternehmen in Kontakt. Das kann der bzw. die CEO oder der Beiratsvorsitzende sein.

Aktuell stehe ich mit unserem familieninternen CEO in engem Austausch. Zunächst besprechen wir sensible Informationen, anschließend bringe ich diese Themen in den Familienrat ein und wir entscheiden gemeinsam, wie wir damit umgehen. Im März und im November finden sowohl die Gesellschafterversammlung als auch die Familienversammlung statt. Wenn absehbar ist, dass Entwicklungen anstehen, die die Familie betreffen, laden wir zusätzlich zu einem separaten Familieninformationsgespräch ein. Uns ist wichtig, dass die Familie immer zuerst erfährt, was im Unternehmen geschieht.

Muss der CEO vonseiten der Familie kontaktiert werden, übernehme ich das. Selbst die eigenen Geschwister wenden sich nicht direkt an ihn. Wir sind hier sehr diszipliniert und respektvoll, denn wir wissen, dass wir eine große Familie sind.

Sie hatten vorhin bereits kurz die soziale Dividende erwähnt. Können Sie uns erläutern, wie Ihre Familie damit umgeht?

Die soziale Dividende wurde vor 30 Jahren eingeführt, weil wir für alle Familienmitglieder ein Mindestmaß an Lebensstandard sicherstellen wollten. In einer Familie mit über 346 Mitgliedern geht es manchen sehr gut, anderen weniger. Die Idee kam von einer Tante, die miterlebt hat, wie ein Cousin Schwierigkeiten hatte, einen normalen Lebensstandard zu halten und die Ausbildung seiner Kinder zu finanzieren.

Wir übernehmen laufend die Kosten für Bildung und Gesundheitsversorgung aller Familienmitglieder sowie einmalig die Unterstützung beim Thema Wohnen. Wenn ein Baby oder eine angeheiratete Person zur Familie dazukommt, wird sie sofort in unseren Gesundheitsplan aufgenommen, welcher zu 100 Prozent abgedeckt ist. Im Bereich Bildung übernehmen wir die Kosten für die Vorschule und 70 Prozent der Schul- und Universitätsgebühren. Außerdem gibt es einen Fonds, aus dem wir zinsfrei Geld für einen Masterabschluss leihen, etwa für ein Studium an Harvard. Die Rückzahlung erfolgt nach einer Karenzzeit innerhalb von fünf Jahren. Zudem verfügen wir über einige Ferienwohnungen, die allen Familienmitgliedern zur Verfügung stehen.

Was ist Ihr Geheimnis für eine harmonisches Familie?

Inklusion. Bei uns ist jeder willkommen und Teil der Familie – nicht nur diejenigen, die Anteile halten. Angeheiratete, adoptierte Kinder, Kinder aus früheren Ehen, unabhängig von Religion oder sexueller Orientierung – wir haben auch gleichgeschlechtliche Ehen. Wir sind sehr inklusiv.

Hatten Sie auf diesem Weg auch Unterstützung durch externe Berater?

Ich habe einen Coach, und für den Vorsitzenden des Familienrats ist ein Leadership-Coaching für die gesamte vierjährige Amtszeit verpflichtend.  Immer wenn wir eine strategische Planung für den Familienrat durchführen, arbeiten wir mit externen Beraterinnen und Beratern.  Außerdem nutzen wir für die jährliche Evaluation der oder des Familienratsvorsitzenden sowie für die Bewertung des gesamten Familienrats alle zwei Jahre externe Unterstützung.

Gibt es noch etwas, das Sie anderen Vorsitzenden von Familienräten zum Abschluss mit auf den Weg geben möchten?

Sie tragen Verantwortung für das Familienunternehmen der nächsten Generationen. Deshalb ist es wichtig, vorausschauend zu handeln. Familien neigen jedoch dazu, im „Hier und Jetzt“ zu denken und die aktuelle Familiensituation in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt darüber nachzudenken, wie sie in zehn oder zwanzig Jahren aussehen soll. Dabei sollten sie genau das machen, so wie sich Unternehmen im strategischen Bereich ganz selbstverständlich damit beschäftigen. Beginnen Sie deshalb heute damit, langfristige Familienziele zu definieren und an deren Umsetzung zu arbeiten. Es braucht viel Zeit und Engagement, um eine starke Familien-Governance aufzubauen. Doch sie ist die Grundlage dafür, dass das Unternehmen langfristig bestehen kann.

Frau Carvajal, wir bedanken uns für das Gespräch und Ihre wertvollen Einblicke.