ESG – die drei Dimensionen von Nachhaltigkeit

Auch Familienunternehmen sollten sich diesem Mega-Thema aktiv zuwenden

Vor etwa zwei Jahren bekam ich einen Anruf von einem CEO eines börsennotierten Familienunternehmens: Ob wir Erfahrung mit der Identifikation und Evaluierung von Top-Managern im ESG-Umfeld hätten? Man wolle seinen Vorstand entsprechend erweitern – am liebsten mit einer Frau.
ESG – hatte ich irgendwie doch schon einmal gehört. Kurz gegoogelt, dann wusste ich zumindest, wofür ESG steht: Die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien in der Unternehmensführung.

Seitdem hat sich viel getan. ESG ist inzwischen ein globales Mega-Thema, es gibt wahrscheinlich nur wenig Vorstände, Geschäftsführungen und Aufsichtsgremien, die über ESG-Kriterien – und deren Relevanz für das eigene Unternehmen – nicht zumindest diskutiert haben. In unserer Firma beschäftigt uns ESG intensiv – nicht zuletzt, seitdem wir eine auf diesem Gebiet spezialisierte Kollegin an Bord geholt haben, die mit ihrer Expertise gerade besonders gefragt ist.

Was nachhaltiges Wirtschaften kennzeichnet

Es gibt verschiedene Definitionen von Nachhaltigkeit, und klar ist, dass sie für Unternehmen, die in verschiedenen Branchen, Regionen und Entwicklungsstadien tätig sind, nicht immer genau dasselbe bedeuten. Grundsätzlich umfasst Nachhaltigkeit im Unternehmenskontext diese drei Dimensionen: Umwelt, Soziales und Governance (ESG: Environmental Social Governance).

Es geht also um den Rahmen für verantwortliches, unternehmerisches Handeln, das in der Geschäftstätigkeit soziale und ökologische Belange in Einklang bringt. Damit verknüpft sich auch eine verantwortungsbewusste unternehmerische Haltung bei geplanten Investitionen, ein „socially responsible investing“. ESG betrifft im Prinzip alle Bereiche eines Unternehmens, von der Supply-Chain, der Produktion, dem Vertrieb über Finanzen bis zu den HR-Themen.

Wegducken? Geht nicht mehr!

Immer mehr Unternehmenslenker sind damit konfrontiert, dass die sog. ‚Stakeholder‘ – also Mitarbeiter, Kunden, Zulieferer, Aktionäre, Aufsichtsbehörden und ‚die Gesellschaft‘ – von ihnen erwarten, dass sie zur Lösung der weltweiten Herausforderungen aktiv beitragen. Dass sie sich nicht nur wohlfeil zu den Konsequenzen von Nachhaltigkeit äußern, oder sich womöglich vollständig vor der Sprengkraft dieses Themas wegducken. Dass Unternehmenslenker ebenfalls Verantwortung zu übernehmen haben – nicht nur für das anvertraute Unternehmen, sondern eben auch für die Gesellschaft, für eine bessere Welt.

Führungsverantwortung auf Top-Ebene schließt auch Verantwortung für die Entwicklung und Umsetzung einer ESG-Strategie ein, um Unternehmen als führenden Anbieter nachhaltiger, verantwortungsvoller und innovativer Produkte und Serviceleistungen – und vorbildlicher Unternehmensführung – zu positionieren. Dabei geht es keineswegs um Gutmenschentum oder gar die Abkehr von Gewinnerzielungsabsichten. Oberste Priorität einer ESG Strategie ist die Steigerung der Unternehmensleistung durch die Erschließung neuer und den Ausbau bestehender Märkte sowie die Minimierung von Reputations-, regulatorischen, rechtlichen und finanziellen Risiken. Zusätzlich zielt sie darauf ab, die Beziehungen zu politischen Entscheidungsträgern und Vertretern der Zivilgesellschaft zu stärken, insbesondere im Heimatland, aber eben auch in Schlüsselmärkten für Sourcing, Produktion oder Absatz. Schließlich muss die ESG-Strategie aussagekräftig und transformativ sein, damit Management und Mitarbeiter sie verstehen, annehmen und am Ende auch umsetzen können.

Mehr als nur Klimaschutz

‚Dekarbonisierung‘ ist das Top-Thema bei ESG. Es ist von hoher strategischer Relevanz – und mit erheblichen Risiken behaftet. Die Transformationen hin zur Klimaneutralität bedarf der strategischen und transparenten Behandlung auf der Unternehmensleitungs-Ebene. In der Vorausschau müssen Produkte und Dienstleistungen überprüft werden, genauso wie Produktionsprozesse und das Arbeitsumfeld entlang der kompletten Wertschöpfungskette. Singuläre CO?-Ziele allein reichen nicht, der Weg dahin muss nachvollziehbar mit quantifizierbaren Meilensteinen hinterlegt werden.

Aktionäre, gerade aus der ‚Next Generation‘, machen Nachhaltigkeit inzwischen zunehmend zu einem harten Investitionskriterium. Verbraucher wollen möglichst nachhaltige Produkte und Dienstleistungen kaufen. Top-Talente wollen für Unternehmen arbeiten, die im Rahmen ihrer „Purpose“- Ausrichtung ein klares (Nachhaltigkeits-)ziel verfolgen und helfen wollen, Ungerechtigkeiten auf der Welt zu beseitigen. Und von den Regulierungsbehörden werden zunehmend nicht-nachhaltige Geschäftspraktiken sanktioniert.

Viele Menschen erwarten, dass auch Unternehmer zur Bewältigung der gewaltigen Herausforderungen – wie dem Klimawandel – eine Führungs- und Gestaltungsrolle übernehmen. Jedenfalls muss dieser Wandel in den Unternehmen von der Spitze aus gesteuert und befeuert werden. Hier geht es dann schnell um die Frage der eigenen Haltung – und der Führung. Es gibt dabei drei miteinander verknüpfte Handlungsbereiche. Zunächst müssen das Fundament gelegt und Nachhaltigkeit in der Führungskompetenz und -kultur verankert werden. Dann sollte es einen Plan geben, wie die Prioritäten der Nachhaltigkeit mit dem Kerngeschäft in Einklang gebracht werden sollen. Und schließlich muss die Transformation, der angestrebte Wandel, durch intensive Kommunikation der Ziele in alle Richtungen – und die Ermutigung aller Beteiligten ermöglicht werden.

Herausforderungen in einer vernetzten Welt

NGOs, Sozialinitiativen und Aktivisten verbreiten die Nachricht von tatsächlichem oder vermeintlichem unternehmerischem Fehlverhalten über die sozialen Medien in rasender Geschwindigkeit überall auf der Welt. Beschäftigte fordern nicht nur sichere und gut bezahlte Jobs, sondern erwarten Sinnstiftung („Purpose“), neue Arbeitsformen, ethisch saubere und nachhaltig wirkende Formen der Unternehmensführung. Kunden nutzen ihre Verbrauchermacht, um über das Internet moralisch begründete Boykotte zu initiieren, die ganze Absatzmärkte einbrechen lassen können. Investoren fordern nicht nur attraktive Renditen, sondern darüber hinaus Diversität in der Führung und Nachhaltigkeit in der strategischen Ausrichtung. Am Kapitalmarkt zeigt sich eine deutliche Verschiebung hin zu ethisch-nachhaltigen Geldanlagen beziehungsweise ökologischen und sozial verantwortlichen Investments. Gemessen wird dies mittels der ESG-Kriterien. Diese werden von Investoren in die Analyse von Wertpapieren mit einbezogen, um soziale, ökologische und ethische Konsequenzen der Investitionen von Unternehmen und Staaten zu berücksichtigen und zu bewerten.

Die öffentliche Hand reagiert

Und der Staat legt selbst Hand an. Die EU-Kommission hat gesetzliche Anforderungen für ESG-konformes Wirtschaften („EU-Taxonomie“) festgelegt: Ab Januar 2022 muss der An­teil der Umsätze oder der Investitionen des Un­ter­neh­mens, der nach festen Kriterien als „öko­lo­gi­sch nach­hal­tig“ ein­zu­stu­fen ist, ausgewiesen werden. Gerade auch in Deutschland steigen die Hürden für die Nachhaltigkeitsberichterstattung: Das Lieferkettengesetz verpflichtet Konzerne ab 2023 zur detaillierten Kontrolle ihrer globalen Wertschöpfungsketten mit Blick auf Sozial- und Umweltstandards, sonst drohen Bußgelder und der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen. Viele Konzernmanager stöhnen, ihr unmittelbares Umfeld sei lauter, fordernder und diverser geworden, der Erwartungsdruck „dramatisch“ gestiegen. Und der geschäftliche Druck jedenfalls steigt mit. Aktivistische Fonds und Fremdkapitalgeber, Versicherer und Geschäftspartner fordern nachweisbar Nachhaltigkeit und vorneweg die beschleunigte Dekarbonisierung der Businessmodelle. Es wird gedroht, Beziehungen zu beenden, neue Aufsichtsräte zu platzieren und Neufinanzierungen zu stoppen: Klimaneutralität wird zum neuen Triple-A-Rating.

Nachhaltigkeit aus Investorensicht

Nachhaltigkeit ist im höchsten Maße erfolgsrelevant für eine positive Wertentwicklung geworden. Larry Fink, der CEO von Blackrock, dem größten Vermögensverwalter der Welt, schreibt seit vielen Jahren Weihnachtsbriefe an die CEOs der größten amerikanischen und europäischen Unternehmen. Die Forderungen darin in den letzten Jahren – nach mehr Langfristigkeit, echter Nachhaltigkeit und verantwortlichem Verhalten – haben es in sich. Inzwischen haben sich auch weitere große institutionelle Investoren zu wahren ESG-Anwälten gewandelt und stellen konkrete Forderungen an die Firmenchefs.

Was Unternehmen bedenken müssen

Familienunternehmen und mittelständische Unternehmer müssen – neben der Einsicht in die Notwendigkeit des hier angesprochenen Umdenkens – erst einmal den Mut und die Weitsicht entwickeln, für das eigene Unternehmen tatsächlich Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt der Unternehmensstrategie zu stellen. Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Gerade wenn ihre Unternehmen weder börsennotiert noch besonders sichtbar sind, ist das herausfordernd. Wenn bisher weder Greenpeace noch andere Aktivisten vor der Firmenzentrale kampiert haben, wenn keine Vorwürfe im Raum standen, dass man Umweltverschmutzer, Abnehmer zweifelhaft hergestellter Vorprodukte oder indirekter Förderer von Kinderarbeit sei, war der Handlungsdruck bislang nicht offensichtlich. Denn gerade die in Deutschland vielzitierten „Hidden Champions“ sind ja häufig genau das: versteckt angesiedelt, lautlos, häufig bescheiden agierend und ohne jegliche Sucht nach Öffentlichkeit.

Der bei manchen Unternehmern noch verbreitete Glaube, Mittelstand und Start-ups könnten ESG-Berichtspflichten aufgrund des bislang definierten Schwellenwertes von 500 Mitarbeitern nach dem 1. Januar 2021 aussitzen, ist jedoch durchaus gefährlich. Die Zeiten, in denen strenge Belegpflichten nur für große Konzerne im Rampenlicht des Kapitalmarkts galten, sind vorbei. Finanzinstitute, Kapitalgeber und Kunden achten auf ESG-Kriterien beziehungsweise richten ihre Investments an diesen aus und erhöhen so den Druck auf Unternehmen, unabhängig von der Größe auch nicht-finanzielle Kennzahlen offenzulegen. Der Finanzmarkt wird so zum Treiber des Strukturwandels der Realwirtschaft. Je schlechter das Rating, desto teurer wird der Kredit; im schlimmsten Fall steht für ein nicht nachhaltiges Investment keine Finanzierung mehr bereit. Das setzt sich in der Lieferkette fort. Als Zulieferer müssen sich Mittelständler künftig auch auf umfangreichere Berichts- und Offenlegungspflichten gegenüber ihren Abnehmern einstellen. Einige Unternehmen denken hier bereits vor und dokumentieren ihre Nachhaltigkeit auch entlang der gesamten Lieferkette – vermutlich in weiser Vorausschau der Lieferkettengesetzgebung in Deutschland und künftig auch EU-weit.

ESG als Megatrend erkennen und zum „Change Agent“ werden

Mitarbeiter, Top Talente, Kunden, Zulieferer, Finanzierer – sie alle werden eine Unternehmensführung dauerhaft nicht tolerieren, die entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Organisation in Richtung Nachhaltigkeit zu entwickeln. Es braucht aus unserer Sicht dazu die Befähigung, die teils ganz neuen Herausforderungen bei der Umstellung auf ein nachhaltiges Geschäftsmodell erfolgreich zu bewältigen. Nur so wird das Unternehmen in die Lage versetzt, die Transformation zu stemmen und die neuen Talente anzuziehen, die es für den Aufbau seiner Zukunft benötigt. Um dieser Herausforderung als Familienunternehmer gerecht zu werden, gilt es selbst „Change Agent“ zu werden – und Führungskräfte um sich scharen, die helfen, die Nachhaltigkeitsagenda voranzutreiben.

Wir treffen in den Familienunternehmen und im Mittelstand viele Unternehmenslenker, die gute ‚Antennen‘ und ausreichend Demut besitzen, gerade auch ihren jüngeren Mitarbeitern wirklich zuzuhören. Zu ihrer Haltung und ihrem Verantwortungsbewusstsein für die nachfolgenden Generationen gehört meistens auch, eigene Geschäftsmodelle und Geschäftspraktiken immer einmal wieder auf den Prüfstand zu stellen. Nachhaltigkeit bedeutet für sie ohnehin, langfristig Verantwortung zu übernehmen. Mit ESG als Megatrend haben sie nun eigentlich eine Chance, ihr Unternehmen und ihre Mitarbeiter in eine Zukunft zu führen, die hoffnungsvoller, nachhaltiger, gerechter und dabei auch wertschöpfender ist.

Als Beratungsunternehmen gerade für Familienunternehmer und langfristig ausgerichtete Finanzinvestoren ist AvS – International Trusted Advisors entschlossen, eine führende Rolle bei der Identifikation und Bewertung gerade derjenigen Führungskräfte zu spielen, die den Wandel zur Nachhaltigkeit in diesen Unternehmen verantwortlich meistern können.